Die Popkultur soll sich schämen

Die neue Zeitrechnung ist die alte In ihren Rettungs- und Zerstörungsphantasien liegen der Westen und seine Gegner nicht weit auseinander

Nichts werde mehr so sein wie vorher, bis zum Überdruss wird seit dem Tag der Terroranschläge eine neue Zeitrechnung beschworen. Bevor auch nur in Ansätzen beschrieben ist, was die nun aktuelle Gegenwart ausmacht, nutzen besonders Eifrige die Gunst der Stunde, um ihre Rechnung mit dem vergangenen Jahrzehnt oder auch gleich dem ganzen 20. Jahrhundert zu begleichen. Das Ende der Spaßgesellschaft verkündete Peter Scholl-Latour am Tag danach mit geradezu freudigem Ingrimm und war damit dem Verständnis der Attentäter näher, als er sich das wohl selbst vorgestellt hätte: "Die Zeit des Spaßes und der Verschwendung ist vorbei", lautet nämlich ein Satz aus dem letzte Woche aufgetauchten "Leitfaden" der mutmaßlichen Terroristen. Der Epochenwandel, das legen auch die meisten Äußerungen der Intelligenz diesbezüglich nahe, bezieht sich also vor allem auf die Unterhaltungsindustrie.

Auch wenn es so klingt, ist das kein Witz, ist doch die Unterhaltungsindustrie weit mehr als ein Marktsegment; sie ist der Bereich, in dem der Westen wohl am meisten mit sich selbst identisch ist, der Inbegriff der westlichen und zuallererst der amerikanischen Kultur. Unter dem Label Populärkultur war sie die eigentlich dominierende kolonialistische Kraft der letzten fünfzig Jahre, und gerade als die Kritik am "Kulturimperialismus" verstummt war, vollbrachte sie noch ihre erfolgreichsten Eroberungen. Ihre Stärke ist ihre vorgebliche "Billigkeit", und in ihren Langzeitwirkungen wird sie oft unterschätzt. Dass der Sozialismus nicht allein durch Wettrüsten besiegt wurde, sondern auch durch das unaufhaltsame Eindringen der Popkultur über die Verbreitung von Kassetten- und Videorekordern, werden wir so wahrscheinlich nie in den Geschichtsbüchern lesen. Auskunft über ihr Wirken geben deshalb vor allem die Gegenreaktionen, die sie hervorruft: Gegen die Popkultur richtet sich unverkennbar das Ressentiment der Fundamentalisten aller Couleur, sowohl der christlichen wie der islamistischen. Sie belegen mit Tabu und Verbot, was schon immer im Kreuzfeuer der Kulturkritik stand: das Konsumistische, das Vulgäre, das Frivole, die moralische und sexuelle Freizügigkeit, die Vieldeutigkeit, die Ironie, den Thrill. Anstoß erregt die Populärkultur, weil sie wirkt und doch niemand genau vorhersagen kann, wie.

Mit den Terroranschlägen schien sich auf jeden Fall die Alptraum-Version der Wirkungstheorie zu erfüllen und zwar gleich in doppelter Hinsicht: Als kollektive Phantasien gelesen, hatte es solche Szenen der Zerstörung in zahlreichen Filmen bereits gegeben, und wer diese Szenen mit Lust gesehen hatte, konnte kaum anders, als sich angesichts der echten Katastrophenbilder zu schämen. Und deutlich, aber ungreifbar stand die Angst vor einem Zusammenhang im Raum: wer glaubt schließlich nicht zumindest ein wenig an die "self-fulfilling prophecy" oder an die Freudsche Traumdeutung, die in allen Phantasien, seien sie auch noch so selbstzerstörerisch, den Wunsch erkennt?

Dass ein geheimer Wunsch in Erfüllung gegangen sein könnte, war das eine, dass dieselben üppig bebilderten Katastrophenszenarien ihrerseits die Attentäter inspiriert haben könnten, das andere. Denn die Popkultur gilt als große Verführerin, selten zum Guten.

Vom "leichtfertigen Umgang mit Explosionen und Katastrophen in den letzten Jahren", sprach Wim Wenders und forderte einen "Feldzug der Zärtlichkeit". Paul Simon redete von der Notwendigkeit einer "spirituellen Wiedergeburt" der Unterhaltungsindustrie und allenthalben ist von einem "neuen Ernst" die Rede. Filme, die in ihrer Fiktion den schrecklichen Ereignissen zu nah kamen, wurden schamhaft verschoben, und eine amerikanische Radiostation erstellte eine Tabuliste für über 100 Popsongs, die entweder zu weit weg von der Realität (Safe in New York City, Obla Di, Obla Da) oder zu nah dran sind (We got to get out of this place, Another one bites the dust). Die Entstehungsgeschichte dieser Liste offenbart gleich ihre Zweideutigkeit: Per Email weitergewandert und von vielen DJs und Hörern ergänzt, kann man sich vorstellen, welchen Spaß es gemacht haben muss, an immer neue Songs zu denken, immer neue Zeilen im nun veränderten Kontext zu verstehen. Während die einen also die Assoziationsflut der Pop-lyrics eindämmen wollten und nichts als Katastrophenlyrik entdeckten, waren andere so schlau, gleich den Song zum Ereignis anzubieten und inzwischen ungeheuer erfolgreich zu vermarkten: Enyas Only time, ein Remix eines nicht mehr ganz aktuellen, leicht sphärischen Folksongs mit O-Tönen der Berichterstattung über die Anschläge, wurde zur Katastrophenhymne - den einen Anzeichen der Gewissenlosigkeit der Popkultur und den anderen Beweis für deren Empathie-Fähigkeit. Only time mag auch ein Beleg dafür sein, dass die Populärkultur keine Verteidiger braucht, weil ihre Eigendynamik jede Irritation sofort integriert. Und man muss kein Hellseher sein, um jetzt bereits zu erahnen, dass nach weiteren Schamfristen, die alle kürzer sein werden, als der öffentliche Anstand gebietet, es wieder Katastrophenfilme geben wird, sogar mit Flugzeugentführern und Wolkenkratzern, und es werden wieder Songs entstehen mit Zeilen wie It´s the end of the world as we know it. Und was immer man davon halten mag, werden diese Songs und Filme als einzelne doch kaum die Ursache für einen weiteren Krieg sein. Im Gesamtkontext der Popkultur betrachtet, wirken sie in ihrer meist ironischen Vieldeutigkeit allenfalls eher gegen den Fundamentalismus als für ihn.

So wirkungslos die Ankündigung des Endes der Spaßgesellschaft also verpuffen wird, so interessant ist die Frage, was hier eigentlich verabschiedet werden soll. Das Zeitalter der Postmoderne sei vorbei, war auch zu hören, vorbei der damit verbundene Werterelativismus und die Haltung des Nichts-mehr-ernst-nehmens. Es ist nicht schwer, herauszuhören, wogegen das gerichtet ist: gegen die Dekonstruktion, die selbst den Humanismus als ideologisches Konstrukt entlarvt und gegen die Kritiker von Ethnozentrismus und jenes dichotomischen Denkens, das sich gerade lauffeuerartig wieder auszubreiten scheint, weil es die Welt so einfach in Gut und Böse teilt.

Wie die Scham über die fiktiven Katastrophenbilder an das Bilderverbot der Islamisten denken lässt, so weist auch das Gerede vom neuen Zeitalter auf eine Heilserwartung durch Säuberungsaktionen hin, die die Fundamentalisten teilen könnten. Diese Phantasie findet sich allerdings schon im Herzstück der Populärkultur aller monotheistischen Religionen: in der Bibel. Auch beim Vergleich der selbstpostulierten "tollsten Stadt der Welt" New York mit dem sinnbildlichen urbanen Sündenpfuhl Babylon fühlt man sich nun ertappt bei einer Phantasie, die den Terroristen ebenfalls nicht fremd gewesen sein dürfte. Aber wer würde sich etwas davon versprechen, nun die Bibel aus dem Verkehr zu ziehen.

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