Die Geschichte machte in den letzten Jahren viel von sich reden. Trotz proklamierten Endes vervielfältigte sie sich geradezu und nahm verschiedenste Gestalt an. So tauchte ihr Mantel auf (der gespensterhaft vorbeistreifte), es wurden ihre Treppenwitze erzählt (die spätes, leicht hämisches Lachen hervorriefen) und nicht zuletzt kamen auch die Fußnoten der Geschichte zur Sprache. Nun ist es mit den Fußnoten so eine Sache: Sie gehören zur Sorte Nebentext, und das bedeutet für die Subjekte, die darin abgehandelt werden, dass sie sich im buchstäblichen Sinne an den Rand gedrängt sehen.
Als Beschreibung eines Lebensgefühls dürfte das den mittleren Osteuropäer ziemlich genau treffen: Sein Alltagsleben ist zur Fußnote neben großen Ereignissen geworden. Aus der Perspektive der so Marginalisierten ist das Verhältnis von Haupt- und Nebentext jedoch ein anderes: Letzterer mag weniger wichtig sein, er hat trotzdem das größere Gewicht.
So zumindest führt es Jewgenij Popow in seinem Roman Die wahre Geschichte der Grünen Musikanten vor. Hier ist der Haupttext gerade mal 65 Seiten lang und erzählt von Iwan Iwanytsch, einem jungen Studenten, der Schriftsteller werden will, aber dann doch noch die Kurve kriegt und "ordentlich" (nach sowjetischen Maßstäben) Karriere macht. Diese Geschichte einer Anpassung ist mit bemühter Ironie erzählt - es ist nicht die Karriere des Ich-erzählers, sondern die eines "nicht sonderlich nahen Bekannten" - und sie spielt in tiefster sowjetischer Vergangenheit, den sechziger, siebziger Jahren. Weil sich seither so viel geändert hat, ist der Text mit Fußnoten gespickt - ganze 888 an der Zahl, die die restlichen 298 Seiten des Romans einnehmen.
Fußnote Nummer eins steht gleich hinter dem Titel des Romans und weist darauf hin, dass so tatsächlich eine von Popow 1974 geschriebene Geschichte hieß, die leider nie veröffentlich wurde - und es auch nie mehr werde. Absichtsvoll vermeidet der Autor auf diese Weise, allzu authentisch zu werden: Er tut lediglich so, als kommentiere er heute ein Frühwerk seiner selbst; in Wahrheit befinden sich Autor und Leser in einer fiktiven Situation. Vielleicht ist es aber auch umgekehrt. Denn im ausufernden Text der Kommentare gibt sich Popow absolut authentisch. Er macht sich lustig über seine damaligen Ambitionen, kommentiert hämisch das linkische Verhalten der Figuren, erzählt von ihren realen Vorbildern und von alten Freunden, von krummen Karrieren und mehr oder weniger tragischen Ereignissen, die aus heutiger Sicht oft skurril wirken. Assoziativ und unstrukturiert, ganz ohne Unterscheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem werden die Kommentare so zum eigentlichen Text.
Die Ironie der Geschichte will es, dass dieser Text in Berlin entsteht, am Majakowskiring in einem Haus, in dem Otto Grotewohl einst hauste. Doch wirklich von Bedeutung ist das nicht; es ist nur eine weitere Fußnote. Aus all den Fußnoten jedoch lässt sich eine "wahre Geschichte" zusammen setzen. Denn Jewgeni Popows eigene Geschichte ist die Umkehrung der Karriere seines Helden Iwan Iwanytsch. Er nämlich hat es geschafft, keine sowjetische Karriere zu machen und ist Schriftsteller geworden, einer von denen, die nicht gedruckt wurden.
Untergründig handelt der Roman von diesem Spannungsfeld: Welche zufälligen Alltagsdetails oft über Anpassung oder Außenseitertum entschieden. Mit der ihm eigenen Selbstironie behandelt Popow beide Seiten zugleich nachsichtig und erbarmungslos. Es macht Spaß, sich auf diesen Nebentext der Geschichte einzulassen.
Was man über die Lektüre von Wladimir Sorokins Der himmelblaue Speck nicht unbedingt sagen kann. Die Fußnoten der Geschichte interessieren Sorokin nicht, ihn interessiert allein der Haupttext. Sein Roman beginnt als Science-Fiction: Im Jahre 2068 steht Russland unter chinesischer Herrschaft; in sibirischen Lagern, wo sonst, klonen Wissenschaftler die großen Geister der russischen Literatur, um aus ihnen eben jenen himmelblauen Speck zu gewinnen, bei dem es sich trotz ansprechender Benennung natürlich um eine ganz ekelhafte Sache handelt. Per Zeitmaschine wird der Stoff nach Moskau ins Jahr 1954 gebracht, wo sich all die großen Namen der Zeit bei perversen Praktiken in wechselnder Zusammensetzung in den Betten tummeln: Chruschtschow mit Stalin, seine Frau mit ihrem Stiefsohn, Hitler mit Stalins Tochter und dergleichen mehr.
Die Travestie ist ein gängiges Verfahren, der Geschichte Herr zu werden; man reduziert die Napoleons auf ihr menschliches Normalmaß und etwas darunter. Sorokin versucht das noch zu toppen; er setzt all die bekannten, teils verehrten, teils verhassten Figuren der Geschichte so weit in die Tiefen von Pornographie und Horrorfilm herab, dass sie zu entrückten, bizarren Monstern mutieren. Ekel und Faszination aber werden so ununterscheidbar. Sorokins karnevalistisches Vorgehen löst kein Aufklärungsgelächter mehr aus. Das Interesse am Eros der Macht, sein bevorzugtes Forschungsfeld, scheint zur Besessenheit geworden. Man möchte ihm in dieser Fixierung nicht mehr unbedingt folgen.
Die erste im Westen publizierte Erzählung Sorokins war 1985 Die Schlange, ein kleines Werk, das nur aus Dialogzeilen bestand: Menschen in einer Warteschlange. Auch hier gab es bereits die nichts auslassende Beschreibung von Sexszenen - der Methode strikt lautlicher Wiedergabe treubleibend bestanden diese aber lediglich aus mehrseitigen Aaahs und Mmmhs. Zu dieser Art frivoler Diskretion sehnt man sich bei der stellenweise wirklich peinigenden Lektüre expliziter Gewalt im Himmelbauen Speck zurück.
Sorokin gibt sich als radikaler Tabubrecher. Während man bei dem bezeichnenderweise eine Generation älteren Popow noch die Erleichterung darüber, heute ohne Zensur schreiben zu können, mitliest, wird in Sorokins Überschreitungsprosa fast schon das Bedürfnis nach neuen Grenzziehungen erkennbar. Als wolle er letztlich erlöst werden von den Geistern, die er selbst beschwört.
Damit, die allererste Generation russischer Autoren (und vor allem Autorinnen) zu präsentieren, die frei von Zensur sei, preist Viktor Jerofejew seine Anthologie Vorbereitung für die Orgie an. Er schürt damit Erwartungen, die die gar nicht so jungen Autoren (fast ausnahmslos sind sie über 30) kaum halten können. Sie lassen sich im Grunde ganz gut einordnen in die beiden Traditionslinien, für die Popow und Sorokin stehen. Was sie allerdings eint, ist das Desinteresse an der großen Politik. Um lässige Umgangssprache bemüht tummeln sich die Figuren hier stets im unhistorischen Alltag, als hätten sie sich damit abgefunden, zum Fußnotentext zu gehören.
Jewgeni Popow: Die wahre Geschichte der Grünen Musikanten. Aus dem Russischen von Alfred Frank. Berlin-Verlag, Berlin 1999. 384 S., 44,- DM
Wladimir Sorokin: Der himmelblaue Speck. Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg. Dumont-Verlag, Köln 2000. 380 S., 48,- DM.
Viktor Jerofejew (Hg): Vorbereitung für die Orgie. Junge Russische Literatur. Dumont-Verlag, Köln 2000. 336 S., 49,90 DM
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