Die willkommene Zerstörung

Streaming Michaela Coels Serie „I May Destroy You“ gibt sich mit einfachen Täter-Opfer-Zuschreibungen nicht zufrieden
Ausgabe 45/2020

Am anderen Ende des Streits um „Cancel Culture“ lauert eine viel zu wenig thematisierte Gefahr: die des Kaltstellens durch Lob. Man könnte es in Anlehnung an einen oft missbrauchten Begriff der letzten Jahre als den Fluch der „Gut-Kultur“ bezeichnen. Die Gut-Kultur macht alles richtig, sie erzählt Geschichten mit starken Frauenrollen, diversen Migrationserfahrungen und einem weiten Spektrum von sexuellen Orientierungen, während sie die brennenden Fragen unserer Zeit thematisiert – Rassismus, Missbrauch, Ungleichheit. Nur dass es eben zu gut klingt – um wirklich zu fesseln. Es ist wie mit dem guten Buch, das der Deutschlehrer einst als Gegengift zur Comic-Heft-Kultur empfahl, da fielen einem schon reflexhaft beim Lesen der ersten Zeilen die Augen zu. (Dass der Zauberberg im Grunde „rockt“, hat man dementsprechend erst viel später gemerkt.)

Wie also diesen Fluch vermeiden, wenn man eine Serie wie Michaela Coels I May Destroy You empfehlen will? Es klingt einfach alles viel zu richtig: Die 33-jährige Michaela Coel ist das afro-britische Äquivalent zu Phoebe Waller-Bridge, ein Multitalent als Schauspielerin, Drehbuchautorin, Regisseurin, Sängerin und Produzentin. Wo Waller-Bridges große Breakout-Serie Fleabag neben viel Lob sich auch den Vorwurf gefallen lassen musste, „zu weiß“ und „zu posh“ zu sein, kann Coels für BBC und HBO produzierte Miniserie I May Destroy You auch in diesem Department punkten.

Mitbewohner und Drogen

Coel spielt darin Arabella, eine Version ihrer selbst: eine in London aufgewachsene Frau mit ghanaischen Wurzeln, die ihr stark von Social Media geprägtes Leben in einem Freundeskreis aus Gleichgesinnten verbringt. Ihr sozialer Status gebietet es, dass man enge Wohnungen mit Mitbewohnern teilt, und ihr Alter, dass man beim Ausgehen und Feiern neben Alkohol weitere Drogen einnimmt. Für Arabella ist der Exzess ein Akt der Erholung vom eigenen Ich und ein Katalysator fürs Kreativsein. Aber dann wacht sie eines Morgens auf, hat verstörende Erinnerungsfetzen im Kopf, aber keinen realen Begriff davon, was in der Nacht davor geschehen ist. Hat ihr jemand etwas in den Drink gekippt? Wo sind die Freunde abgeblieben, mit denen sie den Abend begann? Wer ist der Mann, den sie in den Flashbacks über sich kauern sieht? Was hat er ihr angetan?

Auch das Thema Vergewaltigung könnte ein Abschreckungsfaktor sein, dabei handelt I May Destroy You von viel mehr und viel Universellerem, als es auf den ersten Blick scheint. Von Kreativität, dem professionellen und dem klassenabhängigen Umgang damit zum Beispiel: Arabella nämlich will ihr erstes Buch schreiben – als kritische Stimme ihrer Generation ist sie auf Twitter zu Ruhm gekommen und hat einen Verlagsvertrag an Land gezogen. In der ersten Folge kommt sie von einem gesponserten Aufenthalt aus Italien zurück nach London, wo ihre Lektoren auf ihr Manuskript warten. Sie sei so gut wie fertig, verspricht sie am Telefon, so wie das wohl alle Schreiber schon mal gemacht haben, sie müsse nur noch etwas überarbeiten. Und dann sieht man sie dasitzen, in steigender Panik. Vielleicht läuft es nach einem Glas mit Freunden im Pub wieder besser? Und so nimmt ihr Unglück seinen Lauf. Was Arabella am nächsten Morgen abliefert, befremdet nicht nur die Lektoren, sondern sogar sie selbst.

Dabei ist es keineswegs nur das erlittene Trauma, das es ihr schwer macht, die Ideen in ihrem Kopf zu Papier zu bringen. In einem subtilen und überraschenden Nebenstrang der Handlung zeigt Coel auf, dass Schreiben eben auch ein Handwerk ist, dessen Techniken man erlernen kann – wenn auch das Wissen darum viel mit Privilegiertsein zu tun hat. Immer wieder geht es Coel auch um die durchaus zwiespältige Rolle der besten Freunde – die nicht unbedingt diejenigen sind, die sich in Notfällen am klügsten oder auch nur sympatischsten verhalten. Das Thema sexuelle Gewalt fächert sie dabei in einer Vielfalt auf, die sich nie mit einfachen Täter-Opfer-Zuschreibungen zufriedengibt. Sexualität bleibt eine Gratwanderung zwischen Provozieren und Sich-verletzlich-Zeigen. Für ihr Trauma findet Arabella am Ende übrigens eine Lösung, die über die Gebote der Gut-Kultur auf verblüffende und keineswegs bequeme Weise hinausweist.

Info

I May Destroy You Michaela Coel Großbritannien/USA, 12 Folgen, Sky

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Geschrieben von

Barbara Schweizerhof

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Film“ (Freie Mitarbeiterin)

Barbara Schweizerhof studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und arbeite nach dem Studium als freie Autorin zum Thema Film und Osteuropa. Von 2000-2007 war sie Kulturredakteurin des Freitag, wechselte im Anschluss zur Monatszeitschrift epd Film und verantwortet seit 2018 erneut die Film- und Streamingseiten im Freitag.

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