Die Kulturgeschichte der Ohrfeige jedenfalls ist seit der 94. Oscar-Verleihung um ein Kapitel reicher. Wenn auch nicht um ein besonders ruhmvolles. Lehrreich hingegen war es schon, was da während einer Veranstaltung passierte, die wie keine andere Live-Übertragung auf Gefühlsausbrüche, auf prominentes Lachen und Weinen setzt und deshalb diese Momente üblicherweise besonders sorgfältig „scripted“ und kontrolliert. Das hatte in seiner Durchschaubarkeit schon immer etwas Klebriges, wozu ein gelegentliches Abweichen vom Script und ein bisschen Chaos ein wohltuendes, herbeigesehntes Gegenmittel bildeten. Die Ohrfeige aber, die Will Smith Chris Rock nach dessen Witz über seine Frau verpasste, war zu viel des Guten, wie man auf Deutsch so sagt. Umso interessanter war, wie lang es dauerte, bis das Chaos tatsächlich begriffen wurde.
Im ersten Moment hing noch der fühlbare Zweifel im Raum, ob es sich bei dem „Schlagabtausch“ nicht doch um einen geplanten Sketch handelte. Auf seine Weise bezeichnend, traute man den Produzenten des Oscar-Abends in ihrem Verlangen nach Quote eben so ziemlich alles zu. Aber die verbale Aggression, die Smith auf seine Attacke folgen ließ, als er schon wieder auf seinem Platz saß, ließ keinen Zweifel mehr am Ernst der Auseinandersetzung zu. Und trotzdem agierte der Saal um ihn herum erst mal nach dem altbewährten Motto: The show must go on. Und genau darin waren einem als Zuschauer diese Stars so nah wie selten: in diesem vielleicht feigen, vielleicht sogar schäbigen Verleugnen und Verdrängen.
Erst mal weitermachen, als sei nichts gewesen. Beifall, ja Standing Ovations für Will Smith, als er seinen Oscar entgegennahm, auch dann noch, als sich draußen, bei den Beobachtern der zweiten Ordnung, schon der Shitstorm zusammenbraute. Gleichzeitig konnte auch die sorgfältigste Kontrolle der übertragenden Kameras nicht verbergen, dass sich die Stimmung im Saal eklatant verändert hatte. Wer welchen Oscar kriegte, wem dankte und wie viele Meilensteine für mehr Diversität und Emanzipation erreicht wurden – das alles war zur Nebensache geworden über der Frage, wie die „Academy“, diese komische Körperschaft von Kunst und Kommerz, damit umgeht, dass einer von ihnen aus der Rolle gefallen ist. Unterdessen vollendete „der Diskurs“ sein Werk auf den sozialen Medien und sorgte dafür, dass der Abend einen Namen erhielt: Desaster.
Die Ohrfeige, so ergab die akribische, am Ende immer zur Gegenintuition neigende Analyse, war vielleicht doch wieder das Beste, was den Oscars in puncto Aufmerksamkeitsgenerierung passieren konnte. Alles andere nämlich erwies sich als böser Reinfall. Die vorab vergebenen Preise, die in editierter Fassung in den Live-Stream eingefügt wurden, verstärkten nur den ohnehin holprigen Charakter der Veranstaltung. Die neu eingeführten, in zweifelhaften Twitterumfragen ermittelten „Fan Favorites“ stellten sich als absolut peinlich heraus. Statt angenehmer Selbstironie lieferten die durch die Zeremonie führenden Komiker:innen selten schlecht gelaunte, ressentimentgeladene Witzeleien. Vom Elefanten im Raum ganz zu schweigen: Mit Coda gewann zwar nicht zum ersten Mal ein eher durchschnittlicher, netter Film, aber zum ersten Mal einer, den niemand im Kino gesehen hat. Auch in Deutschland kam er lediglich im Apple-Streaming-Dienst heraus. Was das für die Industrie bedeutet, darüber wird noch geredet werden müssen, wenn die Ohrfeige längst verhallt ist.
Kommentare 19
Ein schlichtes Gemüt hat sich vorgeführt.
Muss man nicht hochjazzen.
Ich möchte nicht wissen, wie viele schwere Gewaltverbrechen es in Los Angeles während der Ausstrahlung gegeben hat. Aber überall gilt die Empörung nur dieser Ohrfeige. Rock hat Smiths Ehefrau verbal Gewalt angetan, Smith hat dafür physisch zurückgeschlagen. Soweit bekannt gab es keine bleibenen Schäden. Das hatte Unterhaltungswert und war weit weniger brutal als ein Profiboxkampf.
Rock und Smith haben beide gezeigt, dass sie zu einem friefertigen und achtsamen Umgang wohl nicht immer fähig sind. In einer Welt voller Unterdrückung, Ausbeutung, Gewalt und Kriege ist das aber auch nicht wirklich verwunderlich. So what?
Ein einziger Niedergang. Prügelnde Preisträger. Damit hat sich das mit den Oscars als Präsenz-Veranstaltung wohl erledigt.
Auch der Pocher hat sich ja eine eingefangen.
Wo man auch hinguckt: Die Zeiten werden härter...
Saublöder Schlagabtausch eben Emotion,da kann der Berg noch froh sein,dass Smith nicht den Tennisschläger genommen hat,eine kluge lakonische Bemerkung von Smith auf soviel Blödheit,wäre besser gewesen,das Würstchen hätte baff die unkluge Klappe gehalten ..
Um mal ein paar Unterschiede zu benennen: Smith hat nicht "zurückgeschlagen", denn er wurde nicht angegriffen, sondern er hat demonstrativ zugeschlagen, Selbstjustiz ausgeübt und propagiert.
Wenn ein in der Öffentlichkeit Stehender einen anderen, dem ebenso Mikrofone zur Verfügung stehen, verbal angreift, ist die Eskalation eben kein Zurückschlagen. Aber wenn man sich auf Seiten der "Guten" wähnt, wie Smith, dann ist alles erlaubt. Das bloße Gefühl auf der richtigen Seite zu stehen, gibt einem den Freibrief für Gewalt. Diese Kriegsbotschaft braucht die "zivilisierte" Welt, wenn es gegen "die Schurken" geht.
Ein Profiboxkampf ist übrigens prinzipiell einvernehmlich, harter Sport.
So that!
It takes two:
Hierzulande haben mit Farid Bang und Kollegah zwei Durchschnittsrapper ausgereicht, um den Echo zubeerdigen.
Vielleicht gehen drüben die beiden Einhandsegler als verdienstvolle Oscar-Versenker in die Geschichte ein...
Ja, Smith hat Rock geschlagen. Das ist Gewalt, die kann und sollte sanktioniert werden. Einen Menschen auf offener Bühne zu demütigen ist evtl. keine Straftat, sollte aber bitte auch moralisch verurteilt werden.
Mein "so what" bezog sich auf den ersten Teil meines Posts. Über diese Ohrfeige wird überall geredet und diskutiert (jetzt hier auch wieder von mir). Die tägliche Gewalt auf Amerikas Straßen ist nur gelegentlich Thema, wenn der tägliche Rassismus wieder einmal extrem eskaliert ist. Über den Ukrainekrieg herrscht (berechtigt) große Empörung. Andere Kriege bekommen viel weniger Aufmerksamkeit, wie zum Beispiel die Kriege im Kongo oder jetzt im Jemen mit hunderttausenden von Todesopfern.
Also bitte immer auch die Perspektive wahren und die Oskarverleihung nicht in den Mittelpunkt allen Interesses stellen.
Nachdem einem die Ohrfeige ständig im Netz angeboten wurde, habe ich mir die Szene auch angesehen. Das Witzeln Rocks über das Haarproblem von Smiths Frau war unterste Schublade. Dafür hatte sich Rock eine Schelle verdient.
Zitat: "Ich möchte nicht wissen, wie viele schwere Gewaltverbrechen es in Los Angeles während der Ausstrahlung gegeben hat. Aber überall gilt die Empörung nur dieser Ohrfeige. ..."
Eine berechtigte Frage. Eine Ursache für die Aufmerksamkeit der Ohrfeige in den Mainstream- (und anderen Medien) liegt wahrscheinlich darin, dass wir es hier mit "feinen Leute" zu tun haben, die im Gegensatz zum gemeinen Pöbel/Mob auf der Straße "niemals aus der Rolle fallen".
Dazu passt der Song von Georg aka Schurli Danzer (von Youtube noch nicht gelöscht/gesperrt/zensiert).
https://www.youtube.com/watch?v=DgTgK0_9QPo
...
Feine leute lügen nie
Sagen nur die Wahrheit
Feine leute pinkeln nie in die Blumenvase
Fallen niemals aus der Rolle oder auf die feine Nase
O, sie sind geboren unter einem feinen Stern
Ach, ich hab feine Leute einfach gern
Man hört sie niemals fluchen
Feine Leute sind gepflegt, ehrlich, nett und offen
Sind von höherem erbaut und von fremden Leid betroffen
Alles allzumenschliche liegt ihnen fern
Ach, ich hab feine Leute einfach gern
Feine leute sind loyal aber nur zu ihresgleichen
Und sie sind so liberal sie sind so nett, die Reichen
Feine leute danken Gott, denn die sind so froh
Dass sie feine Leute sind, na, das ist halt einfach so
Ja, ich liebe sie, meine Damen meine Herrn
Ach, ich hab feine Leute einfach gern
Du solltest dich schon entscheiden, ob die Ohrfeige zu unbedeutend ist, um erwähnt zu werden, oder ob die vorausgehende Beleidigung seiner Frau so bedeutend ist, dass sie in gleichem Maß(!) verurteilt werden sollte.
Ein dummer Spruch rechtfertigt keine Selbstjustiz. Die Aktion von Smith ist eben keine private überzogene Reaktion, sondern - wie ich sagte - ein öffentlichkeitswirksames Statement. Sowas fördert dann auch "die tägliche Gewalt auf Amerikas Straßen", ist in der heutigen Situation letztlich auch eine Rechtfertigung von Krieg. Das ist eine Funktion, die ich für diskussionswürdig halte. Wenn du das anders siehst, ist es dir unbenommen, aber warum schreibst du dann nicht mehr über die Gewalt auf den Straßen, anstatt dich hier mit "Unwichtigem" zu beschäftigen?
Und nein, die Oskarverleihung steht nicht im Mittelpunkt des Interesses (schon gar nicht "allen"), sondern sie ist die Bühne, auf der das Bild von der gerechtfertigten Gewalt im Namen des Guten propagiert wird, vom heldenhaften Beschützer der Witwen und Waisen - und deutlich wird, wie verlogen das ist ist, wie sehr Hollywood. Die oskarreifen Tränen des Will Smith verweisen dabei eher unabsichtlich auf die Funktion von Hollywood bei der rechtfertigung der Gewalt im Namen des "Guten" von "Uns" gegen "Die".
Eine andere Frage, die noch niemand gestellt hat: Warum sind denn in unserer Gesellschaft Haare so wichtig? Warum definiert man sich so über Haare? Auf dem Kopf müssen sie sein (und wehe, frau verbirgt sie durch ein Kopftuch), in den Achselhöhlen dürfen sie nicht. Auch wenn das nicht die Beleidigung von Jada Pinkett Smith rechtfertigt, so ist das wirklich erschreckende doch eher das kranke Männer- und Frauenbild, das hier präsentiert wird. Der gute Macho-Held auf der einen Seite und die 2000 vom Black Men Magazine unter die "Top 10 der sexiest Women des Jahres" gewählte Frau auf der anderen."
DAS ist doch lächerlich, peinlich, sexistisch, menschenfeindlich - wogegen die dumme Bemerkung von Chris Rock relativ wenig Relevanz hat.
Danke für die ausführliche Antwort. Wir werden in der Beurteilung der Situation wohl keine gemeinsame Linie finden.
Nur eine Anmerkung hierzu: > "DAS ist doch lächerlich, peinlich, sexistisch, menschenfeindlich - wogegen die dumme Bemerkung von Chris Rock relativ wenig Relevanz hat."
Frau Smith bewegt sich als Schauspielerin und Sängerin beruflich in einer Welt, in der Äußerlichkeiten von sehr großer Bedeutung sind. Durch ihre Erkrankung ist sie gezwungen mit kurzen Haaren aufzutreten und geht mit dieser Einschränkung mutig und offensiv um. Sich vor mehr als 15 Millionen Zuschauern über das krankheitsbedingte Aussehen eines Menschen lustig zu machen, ist eine extreme Demütigung und weit mehr als eine "dumme Bemerkung". Wenn ich die Wahl hätte, würde ich auf jeden Fall lieber die Ohrfeige nehmen.
Eine dumme ironische Bemerkung über Haarausfall soll eine "extreme Demütigung" sein? Nee, das Problem ist da doch wohl eher die "Welt, in der Äußerlichkeiten von sehr großer Bedeutung sind", zumal es sich hier um die Welt der "Reichen und Schönen" handelt, deren Probleme die meisten Menschen wohl gerne hätten.
Die Gewalt von Will Smith redest du klein mit Hinweis auf "Die tägliche Gewalt auf Amerikas Straßen", während du die Verletzung der Eitelkeit der Oberschicht eine "extreme Demütigung" nennst.
Gibt es schon Statements, die Smiths Aktion als toxisch-männlich-patriarchales "Beschützen" eines "Weibchens" interpretieren?
Damit du mich nicht wieder falsch verstehst: Mir ist Will Smiths Spontanausrutscher sympathisch. :-)
Bestimmt gibt es die Statements. Und ja, klar ist das ein typisch männliches Beschützen. Aber Frauen können das oft selbst auch.
"Gibt es schon Statements, die Smiths Aktion als toxisch-männlich-patriarchales "Beschützen" eines "Weibchens" interpretieren?"
Jede Menge.
So einen perfekten Steilpass kannst Du Dir doch in den kühnsten Träumen nicht ausmalen.
Chris Rock ‘had no idea’ Jada Pinkett Smith had alopecia before making Oscars joke
Schaut man es sich genauer an hier, was mir schon bei der normalen Geschwindigkeit seltsam vorkam, kann man in der Version mit Zeitlupe besser erkennen, nämlich wohl eine schöne Inszenierung. Dabei auch auf die lächelnden Gesichter schauen.
Dann könnte man auch schreiben: "Wie es klingt, wenn keine Hand klatscht".
Ich sympathisiere ja "klammheimlich" nicht mit der Beschützergeste, sondern mit der Klatsche für die scheinheilige Oberschicht-Showbiz-Kultiviertheits-Kulisse, die bei diesen Gelegenheiten aufgebaut wird.