Drinnen und Draußen

60. Filmfestspiele in Venedig Über Publikumslieblinge, Hassfilme und den immer neuen Streit um die Preisträger

Der Tourismus macht ganze Lebensräume zur Ware. Nirgendwo ist dieser Ausverkauf einer Umgebung so weit fortgeschritten wie in Venedig. Aber noch das völlig durchtouristifizierte Venedig ist ein traumhaft schöner Ort, und außerdem muss man bei aller Trauer um das "Echte" immer eingestehen, dass es die Stadt wohl gar nicht mehr gäbe, wenn sie nicht ihren Körper verkauft hätte. Was zudem viel unanstößiger ist, als es klingt, gehen doch spätestens um elf hier die Lichter aus. Dann wird es manchmal eng an den Übergangsstellen von Insel zu Festland: In der Nacht nach der Preisverleihung kam es am Bahnhof zum Tumult, weil der letzte abfahrende Bus nicht alle dort sich drängenden Passagiere mitnehmen konnte. Allerdings mag es Schlimmeres geben, als in Venedig zurückgelassen zu werden.

Wenn auf diese Weise schon die Stadt selbst eine Art Paralleluniversum darstellt, dessen Grenzen nur mit Umständen passierbar sind, begibt man sich als Filmfestivalbesucher auf Venedigs Lido in eine weitere Parallelwelt, einen Kosmos im Kosmos. Doppelt entrückt wird man im Kino dann wieder mit den Wirklichkeiten der weiten Welt konfrontiert. Und betrachtet sie erstaunlich gelassen. Darin mag das Geheimnis dieses Festivals bestehen, vor der Schönheit der Umgebung weichen die ästhetischen und ideologischen Verhärtungen des Kinos auf. Nirgendwo sonst führen Star- und Kunstkino, Debütanten und alte Meister eine so friedliche Coexistenz wie hier. Obwohl es so scheint, als habe Festivaldirektor Moritz de Hadeln von seinem letzten Job aus Berlin die Dauerklage der Presse mitgebracht, es kämen zu wenig Stars, braucht man nur einmal zu sehen, wie etwa George Clooney oder Sean Penn am Casino aus dem Boot steigen, um zu wissen: Die fühlen sich hier wohl und kommen gerne.

Trotz alledem kommt es bei der Verteilung der Preise oft zu Kränkungen. In diesem Jahr war es der italienische Altrebell Marco Bellochio, der so sicher mit dem Hauptpreis für seinen Film über die Entführung des Aldo Moro gerechnet hatte, dass er beleidigt abreisen musste, als er erfuhr, er werde mit der "minderen" Auszeichnung für das beste Drehbuch abgespeist. Den Goldenen Löwen und dazu noch einen Preis für das beste Erstlingswerk erhielt statt dessen der russische Film Die Rückkehr; von Regisseur Andrej Zvjagintsev hatte bis dahin noch nie jemand gehört.

In Die Rückkehr begibt sich ein Vater mit zwei Söhnen auf eine Fahrt ins Unbekannte. Was als erster gemeinsamer Angelausflug beginnt - der Vater war 12 Jahre abwesend -, verwandelt sich in ein Drama um die Verabschiedung des Patriarchen. So wenig man als Zuschauer weiß, warum der Vater so lange weg war - war er im Gefängnis, im Lager? - so wenig erfährt man, warum er seine Jungs nun auf einen Weg mitnimmt, auf dem er nur seine eigenen Ziele - eine Beute zu sichern? - zu verfolgen scheint. Während der Ältere der Söhne für den Genuss der lange vermissten Väterlichkeit mit Demut und Gehorsam auf seine schroffen Anweisungen reagiert, rebelliert der Jüngere immer mehr gegen die verordneten Übungen zu Fügsamkeit und männlicher Abhärtung. Er will, dass sein Vater auf ihn eingeht und nicht nur herumkommandiert. Die Stärke des Films liegt in der Schilderung dieser psychologischen Dynamik: Nicht mit dessen Hilfe, sondern in der trotzigen Abkehr vom Vater überwindet der kleine Junge seine Höhenangst, was allerdings fatale Konsequenzen hat. Worin wiederum eine der Schwächen des Films hervortritt - sowohl in den bestechenden Aufnahmen des menschenverlassenen Naturraums, der die drei umgibt, wie auch im Ablauf der Ereignisse tritt ein Übermaß an Konstruktion, an auf den Effekt zielender Künstlichkeit zu Tage.

Nicht weniger künstlich und doch weniger artifiziell konstruiert der Hauptpreisträger des "Controcorrente", "Gegenstrom" genannten zweiten Wettbewerbs seine Realität. In Vodka Lemon verdichtet Regisseur Hiner Saleem diverse Alltagshandlungen in einem armenischen Dorf zu einer Geschichte über die Gegenwart, wobei er keineswegs auf Romantik verzichtet. Während die Jugend sich im Ausland verdingt, verkaufen die zurückgebliebenen Alten ihr letztes Hab und Gut, bis die Wohnungen, die kaum gegen den vielen Schnee und die Kälte gefeit scheinen, ganz ausgeräumt sind. "Ich dekoriere gerade um", entschuldigt sich der Mann vor der Frau, die zum ersten Mal zum Teetrinken zu ihm kommt. Der Busfahrer, der das Busticket schon mal anschreiben lässt, singt mit Inbrunst das französische Chanson, das er auf Kassette hat, mit: Adamo, Tombe la neige ... Doch an keiner Stelle im Film verstellt der Humor den Blick auf die harten Nachwenderealitäten. "Als wir noch zur Sowjetunion gehörten hatten wir doch alles ...". "Aber keine Freiheit ...". "Ja gut, davon abgesehen ..."

Von Venedig aus scheint sich der Blick überhaupt wie automatisch nach Osten zu wenden: Sei es auf der Suche nach der verloren geglaubten Spiritualität oder der Sehnsucht nach Erneuerung, die gerne "draußen", bei den Barbaren angesiedelt wird. Manchmal schweift der Blick dabei so weit, dass er wieder auf die ganz alten und hochraffinierten Kulturen des Fernen Ostens trifft: Den silbernen Löwen für die beste Regie erhielt Takeshi Kitano für seinen launigen Zatoichi, der im Samuraifilm melancholisch so manches Westernthema anschlägt und die Herzen der Genrefreunde höher schlagen ließ.

Von der Kulturbegegnung zwischen Ost und West handelt gewissermaßen auch der deutsche Beitrag zum Controcorrente-Wettbewerb, Michael Schorrs Schultze gets the blues. Im Humor dem armenischen Vodka Lemon nicht unähnlich, lässt Schorr seine nicht professionellen Schauspieler sozusagen ihr "Ostdeutschland" in einer Folge von Realitätstableaus nachstellen; die Kneipen, die Gartenzwerge, die Skins, die spießigen Wohnzimmer, alles kommt vor. Schultze ist ein Frühpensionär, der bislang auf dem Schifferklavier brav Polka gespielt hat. Eines Nachts nun hört er im Radio die schnellen Akkordeonläufe amerikanischer Südstaatenmusik - und sie gefällt ihm. Am nächsten Tag geht er zum Arzt, um zu erfahren, ob diese Geschmacksveränderung eventuell krankhaft sei. Ohne jede Sprachkenntnisse, dafür mit dem Stoizismus fast einer Comic-Figur reist Schultze schließlich nach Amerika, wo er und sein Regisseur entdecken, dass die dortige Provinz erstaunlich viel mit dem deutschen Osten zu tun hat. Wobei der Film immer dann besonders schön wird, wenn er die Realien für kleine Ausflüge ins Surreale verlässt.

Schultze war einer der Publikumslieblinge in Venedig und es gab so einige, die bereuten, dass Schorr seinen Helden am Ende sterben lässt, so gut könnte man sich gleich eine ganze Reihe von Fortsetzungen vorstellen: Schultze in Venedig, Schultze in Indien ...

Im übrigen hatte auch der wohl beliebteste Film des Festivals, Sofia Coppolas Lost in translation, eine Ost-West-Begegnung zum Thema. Hier ist es Bill Murray, der als schon etwas älterer Hollywoodstar zu Werbeaufnahmen für eine Whisky-Firma nach Japan kommt. Die Fremdheit seiner Umgebung sorgt schon im Kontrast der Körpergrößen für komische Effekte. Bill Murray spielt hier den von widrigen Umständen der kulturellen Kluft Gedemütigten mit soviel trotzig-bescheidener Würde, dass die Kläglichkeit seines Zustands sich schon bald in Charme verwandelt. Der im übrigen seine Wirkung nicht verfehlt: Für nur wenige Tage bildet er mit der nicht weniger verlorenen amerikanischen Philosophiestudentin eine Notgemeinschaft, deren Zauber weit über das gegenseitige Trösten in der Einsamkeit hinausgeht. Die Außenwelt, das fast im Übermaß urbanisierte Tokyo, verschafft der zarten Romanze seiner beiden Hauptdarsteller erst den richtigen Raum: Die klimatisierte und standardisierte Hotelumgebung legt sich wie schützend gegen störende Eingriffe von außen um die beiden.

Auch der französische Regisseur Bruno Dumont hat sich für das Liebespaar in seinem Film Twentynine Palms einen ganz besonderen Raum gewählt: Katja und David verbringen ein paar Tage in der gleichnamigen Wüstengegend. Dumont zeigt sein Paar bei Ausflügen in immer neue Felsgebiete und in erster Linie beim Sex. Es ist ein rauer, fast freudloser Sex, den Dumont seine ungeschminkten Schauspieler darstellen lässt, eine vor allem mit Ausdauer betriebene körperliche Verrichtung, sich des anderen zu versichern, wenn man mit ihm kaum reden kann. Jedes Gespräch der beiden endet zwangsläufig im Streit. Dass sie sich eines Tages noch umbringen, legt der Film schon früh nahe, wie das geschieht, überrascht den Zuschauer dann aber doch.

Dumonts Film gehörte zu den meistgehassten des Festivals. Steht seine Strenge und Härte, die man fast protestantisch nennen möchte, doch auch ganz im Kontrast zu der katholischen Pracht Venedigs. Gezeigt wurde Twentynine Palms dazu noch im Anschluss an den crowd pleaser der Coen-Brüder, Intolerable cruelty mit Catherine Zeta-Jones und Goerge Clooney. So nennt es wenig Wunder, dass es während der Vorstellung des Dumont-Films Hohngelächter gab und in Wellen der Saal verlassen wurde. In der Erinnerung jedoch bleibt Dumont weit mehr haften als der Spaß der Coens.

Eine in der Intensität vergleichbare Publikumsreaktion gab es ansonsten nur noch bei Marco Bellochios Buongiorno, notte. Was man hier in Italien zuerst auf das Thema schieben mag - es geht um die Entführung des Democrazia Christiana-Vorsitzenden Aldo Moro im Jahr 1978 -, vor allem aber mit Bellochios feingliedriger Inszenierung zu tun hat. Bewusst verzichtet der Film auf jede Thesenhaftigkeit. Moro darf hier ein unschuldiges und rührendes Opfer sein, ohne dass seine Entführer und Mörder zu Monstern gemacht werden. Fast kammerspielartig zeigt der Film die hölzernen Diskussionen zwischen den selbst ernannten Klassenrichtern und ihrer Geisel, die der Ton der Zeit waren. In der Geschichte, die sich vor allem auf eine junge Frau unter den Terroristen konzentriert, fächert der Film gleich eine ganze Reihe an darunter liegenden Motivationen auf.

Darüber, dass Bellochio keinen der Hauptpreise erhielt, war nicht nur er selbst erzürnt. In den wenigen Tagen nach dem Festival sahen sich die italienischen Jury-Mitglieder harten Vorwürfen ausgesetzt. Entgegen den ersten Vermutungen seien es nämlich sie gewesen, die meinten, dass Buongiorno, notte zwar für Italien wichtig sei, der russische Film Die Rückkehr jedoch mehr internationales Format besäße. Nur langsam lassen sich die erhitzen Gemüter mit dem Argument beruhigen, dass die ganze Auseinandersetzung um die Jury-Entscheidung dem Film auf jeden Fall zu mehr Publicity verholfen und so schon für ihn gewirkt habe.

Die Kinos auf dem Lido platzten dieses Jahr aus allen Nähten. Überall gab es Schlangen mit Menschen, die, manchmal fast verzweifelt, um Einlass baten. In der abgeschlossenen Welt des Festivals bildete sich ahnungsweise ab, was Michael Winterbottom in seinem Code 46 als die Vision der Zukunft entwirft: Zu wenigen über die Welt verteilten Städte hat nur noch eine erlesene Elite Zutritt; man muss versichert sein. Dieses "Drinnen" ist eine technizierte und angenehme Welt, in der die Belange der Psyche und der Familie durch Pharmazie geregelt werden. Das "Draußen" ist eine Wüsten- und Slumgegend, wie man sie von Arabien bis Indien als Armenviertel kennt. An den Grenzen drängen sich die Zigaretten- und Souvenirverkäufer. Die spannendsten Begegnungen finden allerdings immer noch zwischen diesen beiden Welten statt.

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