Eine Stimme Unterschied

Rotterdam 2006 Das holländische Festival fördert und pflegt wie kein anderes die zukünftigen Stars des internationalen Independent-Films

Aus Berliner Sicht existiert das Filmfestival von Rotterdam so gut wie nicht. Unmittelbar vor dem Großereignis Berlinale will sich in der Berichterstattung kaum Platz finden für ein "Konkurrenzunternehmen". Diese Ignoranz wird dem internationalen Ansehen von Rotterdam in keiner Weise gerecht, gehört es doch zu den wenigen Festivals, die tatsächlich einen eigenen Markennamen geprägt haben. Es gibt folgerichtig den typischen "Rotterdam-Film", der aber nicht über einen Stil zu beschreiben ist, sondern eher über seine Produktionsbedingungen und die Art der Aufnahme, die er hier gefunden hat.

Denn das Rotterdamfestival ist in seiner Filmauswahl eigentlich nichts Besonderes. Wie auf fast allen großen und kleinen Festivals dieser Welt will man neue Talente entdecken und bevorzugt das unabhängige, künstlerisch eigenwillige Kino. Besonders dagegen ist Rotterdam wegen seiner einmaligen Verbindung aus enthusiastischem Publikum und boomendem Koproduzentenmarkt.

Über zehn Tage hinweg laufen in 27 Kinosälen parallel Filmvorstellungen von morgens bis in die Nacht und der übergroße Teil davon ist ausverkauft. Sowohl die 14 Wettbewerbsfilme, die auf Erst- und Zweitwerke beschränkt sind, als auch die übrigen Sektionen, die unter griffigen Titeln wie Sturm und Drang (sic!), Time and Tide und Kings and Aces die meist diskutiertesten Filme der vorangegangenen Festivalsaison von Cannes, Locarno, Venedig, San Sebastian aufbieten. Was vordergründig nach "Best of"-Selektion aussieht, hat in Rotterdam einen eigenen Hintergrund: Stolz reicht man nämlich eine Liste herum, die Filme aus allen Sektionen aufzählt - es sind die vom Hubert Bals-Fond gefördertern Produktionen, die hier als erfolgreiche Heimkehrer gefeiert werden. Der dem Festival angegliederte Fonds schüttet jährlich über eine Million Euro aus für Drehbuchentwicklung, Postproduktion und Distributionshilfe - an Filmemacher aus aller Welt wohlgemerkt. Die Kriterien der Vergabe sind rein künstlerisch und unbedingt global: Man will die "distinktiven" Stimmen des Kinos fördern.

Nicht weniger stolz werden dazu noch zwei weitere Listen präsentiert: die Projekte, die auf dem vom Festival organisierten "CineMart" nach Koproduzenten suchen, und die, die aus diesem CineMart der Vorjahre entstanden sind und es nun in eine der Festivalsektionen geschafft haben. Was ein "Rotterdam-Film" ist, lässt sich von diesen Listen aus besser umschreiben: Der Film des mexikanischen Regisseurs Carlos Reygadas, Batalla en el cielo, in Cannes im letzten Jahr heiß diskutiert, gehört zu den Hubert Bals geförderten Filmen, Reygadas war vor drei Jahren mit seinem Erstlin Japón im Wettbewerb. Genauso wie etwa der deutsche Jan Krüger, der 2004 mit seinem Film Unterwegs einen "Tiger" gewann und nun für sein nächsten Projekt auf dem CineMart um Koproduzenten warb. In Stil und Ästhetik völlig unterschiedlich sind beides Filme für ein eher kleines Publikum. In der deutschen Filmförderung werden solche Projekte zunehmend unpopulär. Rotterdam dagegen hält zu den einmal Prämierten und bietet ihnen auch für Folgewerke Unterstützung und Vernetzung.

Über die Qualität eines Rotterdamer Wettbewerbjahrgangs wird auf diese Weise erst in der Zukunft entschieden - wenn die jungen Filmemacher als erfolgreiche Cannes-Teilnehmer oder mit interessanten Projekten wiederkehren. Dass die heutige Generation es schwer hat, "voranzukommen", war das verbindende Thema der diesjährigen Auswahl. Viele Väter wurden getötet, viele Mütter waren abwesend und viel Unschuld ging unwiederbringlich verloren. Im preisgekrönten chinesischen Walking on the Wild Side etwa mündet die kriminelle Odyssee dreier Schul-Dropouts in vorhersehbarer Selbstzerstörung, deren Sinnlosigkeit der Film noch dadurch betont, dass er die Umgebung mit völliger Gleichgültigkeit reagieren lässt. In der Kunst des "schwarzen Realismus", das den Übergang zeigt aus den bitteren Realitäten des Sozialismus in die noch bitteren des Kapitalismus, übertreffen die chinesischen Filme derzeit noch ihre Genre-Vorgänger aus Osteuropa.

Überhaupt könnte man fast von einer Globalisierung der Desolatheit sprechen, die sich in den Filmen ausdrückt, denn in Lateinamerika sieht es kaum besser aus: Harsche soziale Gegensätze und eine scheinbar nicht enden wollende Wirtschaftskrise, die auch die Mittelklassen verwahrlosen lässt. Im urugayischen Preisträgerfilm La Perrera versucht der Sohn es dem Vater endlich recht zu machen, aber eine Perspektive tut sich auch hier nicht auf: Das Haus, das der Sohn und seine Freunde bauen, um den Vater zu beeindrucken, hat im realen und übertragenen Sinn kein Fundament.

Die Melancholie der Vergeblichkeit bestimmte auch den dritten mit einem "Tiger" ausgezeichneten Film, Old Joy, der zu den wenigen Werken gehörte, die keine "Coming of Age"-Geschichte erzählten. Die amerikanische Regisseurin Kelly Reichardt nimmt sich der Generation 30plus an und zeigt zwei langjährige Freunde auf Wochenendausflug in den Bergen. Sie reden nicht viel, aber ihre Gesten und Blicke sprechen Bände. Die "alten" Freunde, die sich hier über kleine Alltagskalamitäten hinweg - sie verfahren sich am ersten Tag heillos auf einsamen Waldwegen - ihrer Freundschaft versichern, sind gar keine mehr, wenn man genau hinschaut. Die Freundschaft besteht nur noch aus Erinnerungen und Konjunktiven wie "Wir müssten das viel öfter machen!" was deshalb eigentlich heißt: Das war das letzte Mal. Mit bescheidensten Mitteln, aber großer darstellerischer Präzision gedreht, funktioniert Old Joy als wehmütige Metapher auf das liberale Amerika und das dort vorherrschende Gefühl von Isolation und Verlust.

Eine Metapher auf den Leitgedanken des Rotterdamer Festivals, "distinktive Stimmen" zu fördern, bot auf bezaubernde Weise der spanische Beitrag, der viel diskutiert leider leer ausging. La Leyenda del Tiempo porträtiert in zwei Episoden zwei völlig unterschiedliche Menschen und was sie mit der Gabe der Stimme machen. Zum einen geht es um den Zigeunerjungen Isra, der seinen Vater verloren hat, gerade in die Pubertät kommt und ununterbrochen mit seinem älteren Bruder kämpft. In der anderen geht es um die Japanerin Makiko, die einen sterbenden Vater zurücklässt und nach Spanien reist, um Flamenco singen zu lernen. In halb-dokumentarischen Szenen entfaltet der Film eine komplexe und anrührende Erzählung über Fremdsein, Altern, Trauer und den Unterschied, den eine Stimme macht.


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