Kino Emmanuel Carrère lenkt in seiner Adaption von Florence Aubenas’ Putzfrauenreportage den Blick auf die Beziehung zwischen der Reporterin und ihren Subjekten
Fünf Stunden und 45 Minuten braucht die Fähre von Portsmouth bis Ouistreham auf der französischen Kanalseite. Es ist genug Zeit, um eine Kabine, ausgestattet mit überzogenem Bett, Minibar und Bad, so zuzurichten, dass zwei Putzfrauen sie nicht in dreieinhalb Minuten wieder sauber kriegen. Selbst wenn der Kunde den Rest an Höflichkeit besitzt, den Spülknopf zu betätigen, nachdem er sich in der Toilette erleichtert hat. Wie Marianne (Juliette Binoche) und ihre Kolleginnen von der Putzbrigade erfahren müssen, ist Letzteres alles andere als eine Selbstverständlichkeit.
Trotzdem kann die Toilettensäuberung noch der einfachere Job sein, den es unter Zeitdruck zu erledigen gilt: Die Betten neu zu beziehen, ist körperlich so anstrengend, dass M
nd, dass Marianne noch tagelang von einem tauben Gefühl in Schultern und Oberarmen verfolgt wird. Viele Alternativen hat die 48-Jährige nicht: Nach 25 Jahren als Hausfrau, in denen sie für den KFZ-Betrieb ihres Mannes die Bücher führte, muss sich die inzwischen Sitzengelassene alleine durchschlagen. Ohne jede Berufserfahrung bleiben ihr nur Putzjobs. Und selbst die sind gar nicht so einfach zu bekommen, beziehungsweise zu behalten: nicht nur, dass man zu Unzeiten an Dienstorten sein muss, zu denen kein Nahverkehr fährt, oft werden die Putzkräfte zu Überstunden mehr oder weniger gezwungen, die unbezahlt bleiben und so den Mindestlohn noch untergraben. Was zur Folge hat, dass es mehrere Jobs braucht, um nur einigermaßen über die Runden zu kommen. Wie soll man sich aus der Negativspirale je befreien?Nur muss Marianne sich gar nicht befreien. Für sie ist das Ganze ein selbst auferlegter Rechercheauftrag. Juliette Binoche spielt in Wie im echten Leben die Journalistin Florence Aubenas, die sich 2009 nach Caen aufmachte, um zu erforschen, wie sich die Folgen der Finanzkrise auf die „ganz unten“ auswirke. Aubenas, deren Name international bekannt wurde, als sie 2005 im Irak Opfer einer Entführung war, färbte sich die Haare und gab vor, die oben beschriebene verlassene Hausfrau zu sein. Die Recherche hatte sie für sich als eine Art Wette angelegt: Sie wollte so lange weitermachen, bis man ihr eine Festanstellung anbot. Nach fünf Monaten kehrte sie nach Paris zurück und schrieb das Buch Le Quai de Ouistreham.Eingebetteter MedieninhaltDer Erfahrungsbericht, auf Deutsch unter dem sprechenden Titel Putze. Mein Leben im Dreck erschienen, wurde in Frankreich ein großer Erfolg und mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. Man lobte Aubenas dafür, den „Unsichtbaren“ ein Gesicht gegeben zu haben und diejenigen zu würdigen, die oft würdelos behandelt werden. Man pries ihre scharfe Beobachtungsgabe, die herausstellte, dass die Verantwortlichen bei den Sozialämtern ebenfalls unter Druck gesetzt werden und dass gerade die „kleinen Chefs“ oft den Terror des Systems von unmöglichen Arbeitsnormen und -vorgaben noch verschlimmerten. Und man war erleichtert, dass sie bei all der Drecksarbeit auch große Solidarität, gemeinsamen Spaß und Zusammenhalt erlebte.Rückkehr ins PrivilegSo vielgestaltig das positive Feedback war, kamen die Kritiker des Buches dagegen immer auf ein und denselben Punkt zurück: dass es nicht ihre Erfahrungen waren, die sie hier beschrieb, denn sie, Aubenas, habe jederzeit in ihr privilegiertes Leben nach Paris zurückkehren können.In vielsagender Weise schlägt sich dieser Unterschied in der Sichtweise auf Aubenas nun in den unterschiedlichen Verleihtiteln der Verfilmung durch Emmanuel Carrère nieder. Wie im echten Leben lautet der deutsche Titel, der damit das Leben „im Dreck“ als das vermeintlich wahre gegenüber dem privilegierten ausgibt. Als Between Two Worlds, „Zwischen zwei Welten“, wird der Film auf dem englischsprachigen Markt verliehen, womit man die schwierige Stellung der Autorin hervorhebt.Der Film selbst macht in gewisser Hinsicht beides: In der ersten Hälfte sieht man Binoche, wie sie ungeschminkt und unfrisiert bei der Arbeitsvermittlung in Caen vorstellig wird, wie sie in ihre Rolle als berufsunerfahrene Hausfrau hineinfindet, wie sie die Regeln der Putzjobs erlernt und Teil einer Gemeinschaft der Prekären wird, für die kleinste Fehler auf dem Amt oder bei der Arbeit in Lebenskatastrophen wie Wohnungskündigungen oder hungernden Kindern enden können. Als sie Anschluss findet und damit zugleich in der Kollegin Chrystèle (Hélène Lambert), einer alleinerziehenden Mutter mit taffen Lebensdevisen und schrägem Humor, die geeignete Protagonistin und Inspiration für ihr Buch, verlagert der Film seinen Fokus auf das Verhältnis der beiden Frauen, auf eine Freundschaft, die auf Verrat beruht und damit zum Bruch verurteilt ist. Oder etwa nicht?Ist es akademisch – soll heißen: nur in den Augen der Privilegierten von Interesse –, darüber nachzudenken, was diese Art des investigativen Journalismus à la Günter Wallraff mit denjenigen macht, deren Leben zum Stoff wird? Dass sich Emmanuel Carrère für diese Frage interessiert, scheint folgerichtig, hat der französische Regisseur und Autor doch ein Genre von selbstreflexiven Sachbüchern begründet, in dem Literatur als „der Ort, an dem man nicht lügt“, gesetzt ist. Was er im letzten Drittel seines Films mit der Figur macht, für die Florence Aubenas ja das reale Vorbild ist, kommt auf seine Weise wie ein Verrat an der Journalistin daher. Als Chrystèle durch einen Zufall Mariannes wahre Identität und Intention herausfindet, ist es mit der Freundschaft zwischen den Frauen vorbei. Binoche verleiht ihrer Marianne in der Folge eine durchaus realistische Überheblichkeit, die sie fast unsympathisch macht. Der Trotz der Unversöhnlichkeit dagegen bringt der Figur der Chrystèle am Ende ein Stück jener Würde zurück, die ihr die Reduktion zum Buchsujet zu nehmen drohte.Placeholder infobox-1
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