„Erfundene Wahrheit“ über die Relotius-Affäre: Die Blamierten und Beleidigten

Film „Erfundene Wahrheit – Die Relotius-Affäre“ widmet sich einem der größten deutschen Medienskandale. Die Doku über den ehemaligen „Spiegel“-Reporter macht wütend – nicht nur auf Claas Relotius selbst, sondern auf die gesamte Branche
Ausgabe 12/2023
Juan Moreno brachte die Relotius-Affäre an die Öffentlichkeit
Juan Moreno brachte die Relotius-Affäre an die Öffentlichkeit

Foto: Sky

Nachdem im September vergangenen Jahres Bully Herbig eine satirisch zugespitzte Version der Ereignisse in Spielfilmform ins Kino gebracht hatte (der Freitag 39/2022), konnte man die Sache eigentlich für erledigt halten. Was ist überhaupt noch zu sagen zur Relotius-Affäre? Die Fakten sind bekannt: Der preisgekrönte Reporter hat den Großteil seiner preisgekrönten Reportagen gefälscht. Blamiert waren in der Folge nicht nur der Autor selbst, sondern auch die, die ihm geglaubt haben. Daniel Sagers für Sky produzierte Dokumentation zeigt, dass die Liste der Blamierten und Beleidigten noch viel länger ist: Auch die, über die er geschrieben hat, sind gekränkt. Und die, die mit ihm um Platz in den Zeitungen und Zeitschriften konkurriert haben, und deren Texte nicht genommen wurden. Und natürlich die, die ihm bei seinen Recherchen geholfen haben. Geschadet hat Claas Relotius der gesamten Branche. Noch heute, so erzählt Wolfgang Krach, Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung, im Film, schreiben Leser mit Verweis auf Relotius, dass der Zeitung ja nicht zu trauen sei.

Dafür, wie verheerend diese Bilanz ist, kommt der Dokumentarfilm Erfundene Wahrheit – Die Relotius-Affäre fast zu brav daher. Es beginnt einmal mehr mit Juan Moreno und seinem Zweifel an dem, was sein Co-Autor Relotius in ihrer Spiegel-Reportage „Jaegers Grenze“, die Mitte November 2018 erschienen war, geschrieben hatte. Dann wird noch einmal aufgerollt: die Karriere des talentierten jungen Mannes, in dessen Schreibe alle regelrecht verliebt waren. „Wissen Sie, warum uns Ihre Reportage so gut gefallen hat?“, fragt ein Juror den leicht verdatterten Relotius bei einer Preisverleihung auf der Bühne. Um sich die eigene Frage euphorisch gleich selbst zu beantworten: „Weil sie sich liest wie Literatur!“ Wusste der Mann, was er da redet? Ob Relotius sich wohl in diesem Moment „gesehen“ fühlte?

Eingebetteter Medieninhalt

Der Film wirbt damit, dass man hier einiges Material zum ersten Mal zu sehen bekäme, zum Beispiel Juan Morenos Aufnahmen von seinem Besuch bei einem Protagonisten der „Jaegers-Grenze“-Geschichte, der vor laufender Kamera zugibt, Relotius nie begegnet zu sein. Aber ehrlich gesagt, ist der Unterschied zu dem, wie Herbig die Szene in seinem Film Tausend Zeilen nachinszenierte, gar nicht so groß. Was irgendwie ironisch ist.

Spektakulärer ist da schon die Recherche zur ebenfalls im Spiegel publizierten Reportage von Relotius über Mouawiya Syasneh, der als 13-Jähriger den syrischen Präsidenten Assad mit einem Graffito beleidigt haben soll. Hier nämlich führten Relotius’ Erfindungen dazu, dass die wahre Geschichte im Kern vergessen wurde. Für das Thema und die Recherche hatte die Journalistin Asia Haidar ihr Herzblut gegeben. Relotius hatte sie nicht nur ausgebootet, indem er irgendwann ihre Vorarbeit unter den Tisch fallen ließ, er hat durch seine Fälschungen dem historisch bemerkenswerten Moment den Garaus gemacht.

Sagers Dokumentation – formell zu sehr bemüht, dem Hochglanzformat der Streaming-Hits zu entsprechen – löst am Ende erneut Unverständnis und Wut aus. Nicht auf Relotius übrigens, sondern auf das gesamte Umfeld, das seine Geschichten so toll fand. Man richtet den anklagenden Blick ja besonders gern auf die Dokumentationsabteilung, die ihrer Aufgabe der Überprüfung von Fakten nicht nachkam. Aber was besonders wütend macht, ist noch etwas anderes: dass sich in der ganzen Branche offenbar die wenigsten jene einfachen Fragen stellen, die Moreno auf die Spur brachten. Da begeht einer einen Mord und der Reporter sieht zu? Wie kann das sein? An den Schluss seines Films setzt Sager eine lange Liste von Namen, größtenteils Spiegel-Leute, die sich für den Film nicht interviewen lassen wollten. Das spricht für sich.

Erfundene Wahrheit – Die Relotius-Affäre Daniel Sager Deutschland 2023, 93 Min., Sky

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Geschrieben von

Barbara Schweizerhof

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Film“ (Freie Mitarbeiterin)

Barbara Schweizerhof studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und arbeite nach dem Studium als freie Autorin zum Thema Film und Osteuropa. Von 2000-2007 war sie Kulturredakteurin des Freitag, wechselte im Anschluss zur Monatszeitschrift epd Film und verantwortet seit 2018 erneut die Film- und Streamingseiten im Freitag.

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