Immer wieder geht es um die Wurst. In der Sowjetunion war sie ein heiß begehrtes Gut: „Gab es mal Wurst zu kaufen, war sie im Nu weg.“ Die Wurst war aber zugleich mehr als ein Gut: „Wer im Laden aus hundert Wurstsorten auswählen kann, ist freier als jemand, der nur aus zehn Sorten auswählt“. In dem, was die Menschen, die Swetlana Alexijewitsch in ihrem Buch zu Wort kommen lässt, zum Thema Wurst sagen, findet sich die Geschichte der Sowjetunion und ihres Untergangs verdichtet. Oder, wenn das nicht so abgegriffen klänge: verwurstet. Wobei abgegriffen vielleicht gar kein schlechter Modus ist für ein Buch, das sich Secondhand-Zeit nennt.
Die Sowjet-Wurst, die „graue Wurst für zwei Rubel zwanzig Kopeken“, zeichnete sich also vor allem durch Abwesenheit aus. Und wie das so ist mit dem, was nicht da ist: Es wird zu einem Mehr, es lässt das Begehren zur Obsession werden, zu einer fixen Idee. „Wurst und Bananen“, „Wurst und gute Bücher“ – das war in Sowjetzeiten die Utopie, der helle Horizont, die Zukunft, die ständig heraufdämmerte und zugleich in immer weitere Fernen rückte.
Als mit dem Untergang von Sowjetunion und Sozialismus sich die Regale mit eben diesen Waren füllten, fand sich die fixe Idee plötzlich wie der Kaiser in seinen neuen Kleidern entblößt: „Im Laden liegen hundert Sorten Wurst, aber glückliche Menschen gibt es keine.“ Oder, etwas komplizierter gefasst: „Revolution oder Konterrevolution? Niemand versucht auch nur zu erklären, in was für einem Land wir leben. Was für eine Idee wir nun haben, außer Wurst.“ Ein anderer bringt es auf den Punkt: „Gesiegt hat Ihre Majestät die Wurst!“ Und wiederum eine andere Stimme führt aus: „Diejenigen, die die Sowjetzeit erlebt haben, erzählen dir sofort: ,Unsere Kinder dachten, Bananen würden in Moskau wachsen. Und schau dir an, wie es jetzt ist ... Hundert Sorten Wurst! Welche Freiheit brauchen wir noch?‘ Viele wollen noch heute die Sowjetunion zurück, aber mit jeder Menge Wurst.“
Tatsächlich aber meldet sich an weiterer Stelle der Sowjet-Nostalgiker mit: „Ich will zurück. Ich will nicht die sowjetische Wurst zurück, ich will das Land zurück, in dem der Mensch Mensch war.“ Die Sozialkritik an den heutigen Zuständen lässt sich andererseits in einem Satz zusammenfassen: „Ein halbes Kilo Wurst, das ist die Hälfte meiner Rente.“ Und die arrogante Haltung des „neuen Russen“, der es zu etwas gebracht hat, ebenso: „Wenn jemand schlechtere Wurst isst als ich, kümmert mich das nicht. Ihr habt den Kapitalismus doch alle gewollt.“ Bezeichnend, wie sich der Exilant von Land und Wurst zugleich distanziert: „Mit der russischen Seele ist bei mir nicht viel los, die ist bei mir nicht sehr ausgeprägt. Ich bin abgehauen in die Staaten. Ich esse im Winter Erdbeeren. Wurst gibt es hier in Massen, und sie ist kein Symbol für irgendwas ...“
Das ist das Großartige, aber auch Überwältigende an diesem Buch: die Vielzahl der Stimmen. Swetlana Alexijewitsch, als Tochter einer Ukrainerin und eines Weißrussen 1948 in der Ukraine geboren und in Weißrussland aufgewachsen, hat das „chorale Erzählen“ als literarische Kunstform bereits in ihrem ersten großen Bucherfolg, dem vor bald 30 Jahren erschienenen Der Krieg hat kein weibliches Gesicht entdeckt. In Secondhand-Zeit schneidet die studierte Journalistin erneut mündliche Lebensberichte zu einer Collage zusammen, die keineswegs ein einheitliches Bild ergibt, sondern einem fesselnden, oft tragischen, streckenweise pathetischen Musikstück mit vielen dissonanten Tönen gleicht.
Da gibt es die Lebensgeschichte von Wassili Petrowitsch N., Mitglied der Kommunistischen Partei seit 1922, 87 Jahre alt zum Zeitpunkt des Interviews, in der Glanz und Elend der Sowjetunion idealtypisch gespiegelt sind: ein Leben vom Glauben an den Kommunismus wie befeuert und durch alle Schrecknisse von Verhaftung zu Stalinschen Terrorzeiten und Misshandlung im Krieg nicht zur ideologischen Wende zu bekehren.
Verhältnis zum Tod
Am Ende steht ein grausliches Geständnis: Als 15-Jähriger hat er den eigenen Onkel an die Partei verraten. Sein letzter Satz: „Ich will als Kommunist sterben.“ Auf anderen Seiten folgt die Erzählung einer Mutter über ihren Sohn, der im Alter von 14 Jahren Selbstmord verübte. Ein Leben, in dem die markanten historischen Punkte wie Krieg, Lager, Wende keine Rolle spielen, in dem es nicht um den Mangel an Wurst oder den Mangel an Freiheit geht. Das sich beim Lesen aber durch ein anderes Thema mit dem großen Ganzen des Buches verbindet: dem des Todes, der Bereitschaft dazu und der Sehnsucht danach. „Wir haben ein besonders Verhältnis zum Tod“, heißt es nicht umsonst gleich auf der ersten Seite.
Denn die längeren Interviews, die Alexijewitsch in ihrem Buch dokumentiert, dabei immer den Duktus der Mündlichkeit beibehaltend, geben fast ausnahmslos Geschichten zu Protokoll, in denen der Tod als Möglichkeit in seiner grausamsten Form den Hintergrund bildet: jene bekannteren aus der Stalinzeit, den Lagern und dem Zweiten Weltkrieg und jene unbekannteren aus den diversen Bürgerkriegen im Umfeld des Zusammenbruchs der Sowjetunion, aus Dagestan, Georgien, Tadschikistan und dem armenisch-aserbaidschanischen Konflikt. Mit dem distanzierenden Begriff „Gewalterfahrung“ ist diesen Lebensgeschichten nicht beizukommen.
Zumal Folter, Verfolgung und anderes Leid, das klingt hier deutlicher denn je heraus, zwar en masse und gemeinschaftlich erlitten wurden, aber ihre Aufarbeitung nie kollektiv stattfand, sondern wenn überhaupt, dann nur in Einzelgesprächen. Von dieser Vereinzelung im massenhaft erlittenen Leid, das Alexijewitsch hier nachzeichnet, geht eine Aura der Verlorenheit aus. Ganz entgegen seines launigen Titels ist Secondhand-Zeit ein niederschmetterndes Buch. Die wenigen „einfacheren“ Geschichten, in denen von großen Lieben oder auch unglücklichen Ehen mit Trinkern berichtet wird, verstärken diesen Eindruck eher, als dass sie ihn abmildern. Auf ein pathetisches „Wir haben so sehr geglaubt!“ folgt immer bald ein bitteres: „Das ganze Leben in Kasernen, in Wohnheimen, in Baracken.“
Wie überhaupt der Titel etwas in die Irre führt: Vom „Leben auf den Trümmern des Sozialismus“ handelt Swetlana Alexijewitschs Buch vor allem insofern, als sie die hier verwendeten Interviews und Aufzeichnungen nach der Auflösung der Sowjetunion gemacht hat. In zwei große Segmente aufgeteilt, 1991–2001 und 2002–2012, verfolgt ihr Buch inhaltlich eher einen Weg zurück: Im ersten Teil dominieren noch die Reflexionen auf all die Veränderungen unter Gorbatschow und Jelzin. Im zweiten Teil wendet sich der Blick teils in die länger zurückliegende Geschichte und bleibt teils in der Gegenwart. Gorbatschow und Jelzin spielen keine Rolle mehr.
Was schade ist, sind es doch gerade die Neunziger, die heute als historisches Rätsel erscheinen, als eine Epoche, auf die weniger die Nachgeborenen als vielmehr diejenigen fragend zurückblicken, die sie miterlebt haben. Für letztere sind deshalb besonders jene auf diversen Plätzen und Diskussionen erlauschten Bemerkungen interessant, die Alexijewitsch zwischen ihre individuell geführten Interviews schneidet. „Aus Straßenlärm und Küchengesprächen“ sind letztere treffend überschrieben. Und aus dem Stichwort „Küche“ lässt sich ähnlich wie am Beispiel Wurst eine eigene Collage erstellen: „Wir saßen in unseren Küchen, schimpften auf die Sowjetmacht und erzählten politische Witze.“ Das ist die vielleicht umfassendste Beschreibung des sowjetischen Alltags, während Folgendes eben das bis heute nicht zu Ende begriffene Geschehen der Neunziger auf den Punkt bringt: „... die impotenten Küchenhocker ... Die sind auf Kundgebungen gerannt. Haben die Luft der Freiheit geschnuppert, während kluge Leute Erdöl und Gas unter sich aufgeteilt haben ...“
Es sind solche Bemerkungen, die das historische Interesse anstacheln: Was ist da eigentlich passiert? In den Neunzigern wurde aus einer Gesellschaft, in der Geld keine Rolle spielte und Bücher (!) einen unschätzbaren Wert besaßen, ein Land voller Oligarchen. „Schlangestehen und leere Geschäfte vergisst man leichter als die rote Fahne auf dem Reichstag“, heißt es an einer Stelle. Alexijewitschs Buch lässt in seiner Vielstimmigkeit beides nebeneinander erklingen, die Alltagserfahrungen und ihr oft tragisches Kollidieren mit der großen Geschichte. Das Ergebnis ist ein berückendes, oft auch verstörendes Stück neuer Musik.
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