Selbstredend, das sei schon mal vorausgeschickt, ist das Ganze völlig überschätzt. Die Oscar-Verleihung sei doch nur das Schaulaufen einer abgehobenen und egozentrischen Industrie, in der wahre Kunst sowieso nichts zählt, so heißt es nicht unberechtigt jedes Frühjahr. Und zum Beleg: Wer kann sich überhaupt noch an den besten Film vom letzten Jahr erinnern, geschweige denn an den Gewinner von vor zehn oder auch zwanzig Jahren? (Zur Auflösung: Green Book, Hurt Locker und American Beauty) Haben nicht in Wahrheit die wirklich besten Filme immer verloren (L.A. Crash gewann statt Brokeback Mountain 2006, Shakespeare in Love statt Der Soldat James Ryan 1999)? Warum also sollte man sich Gedanken machen über das, was etwa 6.500 Mitglieder einer „Ac
über das, was etwa 6.500 Mitglieder einer „Academy of Motion Picture Arts and Sciences“ auswählen? Die besten Argumente dafür – weil das Streiten über das Oscar-Rennen Spaß macht und interessant ist – wirken aufs Erste fade, ja zahnlos. Sie entwickeln ihren Sog erst, wenn man mitmacht. Dann aber in einer Weise, die schnell die Relationen verschwimmen lässt, gar zu Obsessionen, Verbitterungen und abgebrochenen Freundschaften führt. Und zu manch sinnlos in die Öffentlichkeit gerufenen Drohung: „Wehe, The Irishman geht leer aus!“, oder „Wenn Joker gewinnt, dann ...!“Die obsessive Oscar-Beobachtung teilt sich in zwei Sektionen: Da ist einmal das nerdige Buchmacher-Getue rund um das Rennen und seine Wettquoten. Hier werden Vorjahresstatistiken ausgewertet, historische Daten zitiert und die laufende „awards season“ nach Indikatoren durchforstet. Der Diskurs ist hoch spezialistisch – „nur in zwei von drei Fällen hat die Produzentengilde anders als die Akademie entschieden“ – und für Außenstehende sterbenslangweilig. In diesem Expertenfeld gilt übrigens Sam Mendes’ Erster-Weltkriegs-Film 1917 (siehe die Kritik im Freitag 3/2019) als Favorit der Stunde, dicht gefolgt von der koreanischen Klassenkampfsatire Parasite.Auf der anderen Seite geht es emotionaler zu, hier wird agitiert, gestritten und auch mal verleumdet, es kommt zu Fraktionen- und Frontbildung: Wir sind auf dem breiten Feld der kulturellen Deutung, auf dem darum gerungen wird, welcher Film es denn nun tatsächlich verdient hätte zu gewinnen. Egal, was man von den einzelnen nominierten Filmen hält, bietet die Oscar-Debatte in dieser Hinsicht tolles Anschauungsmaterial: Wie soll er denn sein, der beste Film?Allein ein gewichtiges Thema oder Anliegen reichen heute jedenfalls nicht mehr; die Machart, die Fragen der Repräsentation vor und hinter der Kamera, und nicht zuletzt die ideologische Ausrichtung, die vorgebliche und die im Verborgenen, sind weitaus wichtiger als die Story an der Oberfläche. Das Politische ist dabei im Zweifelsfall immer woanders, als man denkt.Wo und wie und von wemMan nehme etwa den genannten Favoriten 1917. Die Politik steckt hier nicht im Erzählten, das der Film betont wertfrei und kontextlos zeigt, der Streit entzündet sich vielmehr an der Machart. Das Bravourstück des „So tun, als passiere es in Echtzeit“ verurteilen viele als bloßen Gimmick, als Taschenspielertrick ohne kulturellen Mehrgewinn. Andere dagegen finden im Erleben der Unmittelbarkeit dieses „One Shot“-Stücks etwas Wahres, Schockierendes und bewundern rückhaltlos das hohe handwerkliche Niveau von Regie und Kamera. Im Fall von Parasite liegt das politische Moment wiederum zwar einerseits im Thema: Der Koreaner Bong Joon-ho schildert mit präzis kalkulierter Satire einen modernen Klassengegensatz, andererseits hat die Sympathie für ihn und seinen Film viel damit zu tun, dass sich die Academy gerne weltoffen gibt, und Parasite dafür genau die richtige Mischung von anders, aber nicht zu fremd bietet. In ähnlicher Weise ist die Nominierung von Greta Gerwigs Little Women damit verbunden, dass der Film von einer Frau gemacht wurde und von Frauen handelt, und jede Diskussion darüber, ob er genau deswegen unter- oder überschätzt wird, kommt nicht aus dem Dilemma heraus, den strukturellen Mangel an Regisseurinnen und Themen die vor allem Frauen interessieren, abzubilden.Anders liegt der Fall bei Martin Scorseses The Irishman, wo sich die Streitfragen tiefer in der Produktion verbergen. Dass der Film zwar zigmal nominiert wurde, aber bei den großen Preisvergaben bislang relativ leer ausging, lässt sich als Indiz eines anhaltenden Befremdens darüber werten, dass der Film als Auftragswerk eines Streamingdienstes im Kino nur eine Gastrolle gibt. Bezeichnenderweise zeigt Quentin Tarantinos ebenfalls nominierter, tief nostalgischer Once Upon a Time in Hollywood das alte Hollywood der späten 60er Jahre zwar als untergehende Industrie, aber sie erscheint dafür im Dahinscheiden als umso schöner. Wo Scorsese einen unerbittlichen Blick aufs eigene Genre des Mafia-Films wirft (interessanterweise personifiziert durch eine Frau, Anna Paquins wortkarge, eindringliche Tochter), verklärt Tarantino seine fehlbaren, wehleidigen Helden willentlich und mit Flair. Und das Filmemachen gleich mit, wenn er es dazu nutzt, Geschichte neu zu schreiben und am Beispiel der Manson-Bande spätere Mörder von seinen Helden quasi vorsorglich umbringen lässt.Der Bösewicht im RennenDie Rolle des „bösen“ Films in der Debatte übernimmt in diesem Jahr Todd Phillips’ Joker. Interessanterweise sind es vor allem atmosphärische Aspekte wie Tonlage und Sympathieverteilung, an denen sich ein großer Teil der Kritik stößt. Von falschem Ernst und falscher Einfühlung war viel die Rede. Und von Missverständnissen, die der Film bei Dritten, den anderen, womöglich den „Incels“ auslösen könnte. Dass der Film tatsächlich etwas zur schlechten Stimmung der Gegenwart aussagen will, wird ihm als eine Art Größenwahn ausgelegt; vom Regisseur der Hangover-Komödien möchte man sich jedenfalls nicht über den Ernst der Lage belehren lassen. Die gereizte Stimmung, die Joker wie kein anderer Film in dieser Oscar-Debatte hervorruft, macht ihn gleichzeitig zum Exemplarischsten der nominierten Produktionen: ein echter Spiegel der polarisierten Epoche, in der sich über die Frage der Empathie für die falsche Seite die Geister scheiden.
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