Noch mehr Merkel-Neugier

Fernsehen Wissen wir nicht längst genug über die Ex-Kanzlerin? Warum Torsten Körners Doku über Angela Merkel trotzdem so fesselnd ist
Ausgabe 08/2022

„Zu früh!“, möchte man dem eigenen Fernseher entgegnen, wenn er die gefühlt 231. Dokumentation zu Angela Merkel ankündigt. Wissen wir durch ihre lange Phase des Abschieds nicht schon genug über sie? So viel jedenfalls, wie man über sie, die stets diskrete, überhaupt wissen kann? Und andererseits: Sind wir nicht immer noch zu dicht dran, um wirklich mehr zu wissen? Oder auch nur auf interessante Weise das, was wir wissen, infrage zu stellen? Regisseur Torsten Körner (Die Unbeugsamen, Schwarze Adler) hat sich von solch kleinmütigen Fragen nicht entmutigen lassen und präsentiert mit Angela Merkel – Im Lauf der Zeit ein dokumentarisches Porträt, das sich zumindest stilistisch von der üblichen Fernsehdoku unterscheiden will.

Die ambitionierte Idee dabei ist offenbar, dass Körners Fernsehfilm eigentlich gerne Kino wäre. Oder wie ist es zu verstehen, dass er die Titel der Kapitel, in die er sein Porträt unterteilt hat, auf den Leuchtreklamen einschlägiger Berliner Programmkinos nachbildet? Vielleicht ist es ja nur ein Tribut an die Entstehungszeit des Films, in der besagte Kinos immer wieder schließen mussten. In einem Film, der erstens über exzellentes Archivmaterial aus den vergangenen 32 Jahren und zweitens über Interviews mit Politprominenz wie Theresa May, Christine Lagarde und Barack Obama verfügt, erscheinen die ausgedehnten Sequenzen mit den Kinos als seltsame Wahl. Der Rest ist so viel spannender!

Ab und zu wird sogar Kritik laut

Denn so übersättigt von Merkel-Dokus man sich zu Beginn auch fühlte, gibt es an Körners Porträt etwas, das einen als Zuschauer*in von den ersten Aufnahmen an – ein kurzer Ausschnitt aus Merkels letztem Amtsjahr und einer aus Merkels Anfangszeit – fesselt. Die Fakten hat man zigmal gehört, „Kohls Mädchen“ usw., aber irgendwas zieht einen sofort wieder rein in diese Zeitgeschichte. Die 90er Jahre – was war das für ein seltsames Jahrzehnt. Wie viel ist da passiert, was heute noch fast unbegriffen bleibt. Zum Beispiel jener geradezu heimliche Aufstieg dieser anfangs so unscheinbaren Ministerin für Frauen und Jugend. Von Kohl wurde sie offenbar als „Zwei Fliegen mit einer Klappe“-Strategie, Quotenfrau und Quoten-Ossi, eingesetzt, ohne auch nur einen Gedanken daran, dass diese Frau daraus eine Karriere machen könnte. Von „Kabinettsküken“ ist in den Originalaufnahmen jener Zeit tatsächlich die Rede. „Habt ihr nur Schwarz-Weiß oder ist das Angela Merkel?“, witzelt Friedrich Küppersbusch in seiner Sendung und fragt sie in einer anderen Aufnahme direkt: „Grau oder Maus – welche Beschreibung ist Ihnen lieber?“ Wenig später ist der Ausschnitt zu hören, in dem Gerhard Schröder trotz eigener Wahlniederlage die Möglichkeit einer Kanzlerin Merkel als geradezu absurde Vorstellung abtut und das bekräftigt mit „Wir müssen die Kirche doch auch mal im Dorf lassen!“. Wenn man sich klarmacht, dass das gerade mal 16 Jahre her ist, erfüllt einen die dieser Tage rare Freude, dass sich doch einiges gebessert hat seither. Den offenen Sexismus haben zumindest die Politiker heute besser im Griff.

Körner arbeitet sich nicht chronologisch durch Merkels Biografie und Karriere, sondern gruppiert thematisch: In einzelnen Kapiteln geht es um Merkels Aufstieg unter Männern, ihre Herkunft, die Eurokrise, die Flüchtlingskrise und natürlich auch Corona. Keines der Themen wird erschöpfend behandelt, aber die frauenlastige Auswahl der Gesprächspartner – und darunter so relativ unverbrauchte Namen wie Luisa Neubauer, Jutta Allemendinger oder Aminata Touré – sorgt für nuanciertes Abwägen. Ab und zu wird sogar Kritik laut. Die Neugier, die der Film anstachelt, kann er letztlich nicht zur Genüge befriedigen. Aber wer weiß, was der größere historische Abstand da noch bringt.

Info

Angela Merkel – Im Lauf der Zeit Torsten Körner D 2022, 89 Min., 27.2., 21.45 Uhr in der ARD. Dort und bei Arte auch in der Mediathek

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Geschrieben von

Barbara Schweizerhof

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Film“ (Freie Mitarbeiterin)

Barbara Schweizerhof studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und arbeite nach dem Studium als freie Autorin zum Thema Film und Osteuropa. Von 2000-2007 war sie Kulturredakteurin des Freitag, wechselte im Anschluss zur Monatszeitschrift epd Film und verantwortet seit 2018 erneut die Film- und Streamingseiten im Freitag.

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