Um es gleich vorwegzunehmen: Darwins Alptraum ist kein Film, der Vergnügen bereitet. Früher galt das bei Dokumentarfilmen als selbstverständlich, heute muss man es dazu sagen, weil Dokfilme zunehmend die besseren Komödien sein wollen. Darwins Alptraum, der Titel weist hier absolut in die richtige Richtung, macht dagegen eher dem Horror-Genre Konkurrenz. Noch angebrachter wäre vielleicht der Vergleich mit einem Hitchcock-Thriller wie Die Vögel, so verstörend, unheimlich und beunruhigend ist die Wirkung.
Dabei hat alles so harmlos angefangen. Irgendwann in den sechziger Jahren kam jemand auf die Idee den Nilbarsch, beheimatet in den unteren Läufen des Stroms, im Viktoriasee, der Quelle des Nils auszusetzen. "Ein Mann mit einem Eimer an einem Nachmittag und das war´s", so fasst im Film ein Experte das Geschehen zusammen. Es dauerte zwei Jahrzehnte, dann waren die Folgen dieses kleinen Experiments nicht mehr zu übersehen: Der Nilbarsch, ein Raubfisch, vermehrte sich nicht nur bestens, er fraß dabei leider auch viele der einheimischen Fischarten buchstäblich weg. Mittlerweile muss man davon ausgehen, dass der frühere Artenbestand um mehr als die Hälfte reduziert ist; andere "Nebenwirkungen" wie vermehrte Algenbildung und schlechtere Wasserqualität machen sich ebenfalls bemerkbar. Das ist die eine Seite.
Auf der anderen Seite hat die rasante Vermehrung des bis zu zwei Meter großen Barsches eine wirtschaftliche Entwicklung losgetreten, von der sich die Anrainerstaaten des Viktoriasees Aufschwung, wenn nicht gar Wohlstand erwarten. An den Ufern ist eine Fischindustrie entstanden, die mittlerweile mehrere Hundert Tonnen Filet unter dem Label "Viktoriabarsch" nach Europa ausfliegt. Die betroffenen Regierungen sind dementsprechend schlecht auf Umweltschützer zu sprechen. Sie fordern ihre Bevölkerung dazu auf, den Fisch nicht als Eindringling, sondern als Segen zu betrachten, der Arbeitsplätze, Geld und Nahrung bringt.
Der Viktoriabarsch - Fluch oder Segen? Das wäre ein toller Stoff für eine engagierte Reportage, die die Rechtschaffenen dieser Welt über die drohende ökologischen Katastrophe unterrichtet, ein Film der auf zahlreichen Symposien gezeigt werden könnte, kurz gesagt ein Film für die aufgeklärten Geo-Leser. Doch der österreichische Dokumentarist Hubert Sauper hat sich gegen solch ein lukratives und vielseitig einsetzbares Projekt entschieden. Herausgekommen ist ein Film, der einer wahren Höllenfahrt gleicht und in ganz altmodischem Sinn betroffen macht. Diskutieren will man danach eigentlich kaum mehr.
Saupers Vorgehen ist im Grunde schnell beschrieben: Er hat sich am Viktoria-See genau umgesehen. Mit der Kamera besucht er die Fischfabrik und den Flughafen, geht nachts durch die Straßen und fährt mit dem Boot zu abgelegeneren Orten. Wie ein Reporter alter Schule spricht er mit Betroffenen, wirft einen Blick hinter die Fassade und versucht auch das zu filmen, was man vor fremden Augen lieber verborgen hält. In aller Beiläufigkeit fängt er dabei Szenen ein, die der Erfolgsstatistik Hohn sprechen: Kinder, die sich um eine Schüssel Reis prügeln; Arbeiterinnen, die faulenden Fisch zum Trocknen aufhängen, Fischerdörfer, die an Aids zugrunde gehen.
Seine Gesprächspartner sind die russischen Piloten, die den Fisch nach Europa fliegen, die Prostituierten, die sich mit ihnen treffen, die Straßenkinder genauso wie der Fabrikbesitzer, der Fluglotse und der Gemeindepriester. Jedes Gespräch fügt dem unschönen Gesamtbild einen weiteren Mosaikstein hinzu. Globalisierung ist, so stellt sich heraus, wenn Wenige das profitable Geschäft machen und Viele sich mit dessen Abfall zufrieden geben müssen. So werden täglich an die 500 Tonnen Fisch aus dem See geholt, und trotzdem droht in Tansania eine Hungersnot.
Unerbittlich fängt Darwins Alptraum die Widersprüche ein: Sauper zeigt die Fischherstellung nach europäischen Standards, nach denen Hygiene das oberste Gebot ist. Gönnerhaft gratuliert die EU-Kommission der Fischindustrie Tansanias zum großen Erfolg, den sauberen Fisch in deutsche und andere Supermärkte zu exportieren. Doch dann folgt die Kamera dem Lastwagen mit Fischabfällen - die sind für die Einheimischen, heißt es abwinkend - und entdeckt am anderen Ende der Verwertungskette Arbeitsbedingungen und Hygienestandards, die jeder Beschreibung spotten.
Dass Handel Austausch bedeutet, ist eines der großen Versprechen der Globalisierung. Immer wieder sieht man in Saupers Film die abfliegenden und ankommenden Flugzeuge und wie sich die Menschen nach ihnen umdrehen. Was bringen sie also im Gegenzug an Gütern aus Europa mit? Hartnäckig fragt Sauper seine Gesprächspartner danach, und erhält immer wieder die Antwort: Sie kommen leer. Doch der investigative Dokumentarist lässt nicht locker und nach und nach kommt heraus, dass hier unter anderem Waffen für die Krisenherde Afrikas eingeschleust werden. Wo Waffen sind, wächst der Druck, sie auch zu benutzen. In einem Land, das den wenigsten seiner Bewohner eine Perspektive bieten kann, erscheint Vielen der Krieg als möglicher Ausweg.
Die Menschen, denen Sauper bei seinen Erkundungen mit der Kamera begegnet, machen sich keine Illusionen, nicht über die Europäer, von denen sie sich im Stich gelassen fühlen, und erst recht nicht über die Zustände in ihrem eigenen Land. In Dogma-Manier, die Digitalkamera ganz nah an den Gesichtern, gelingen Sauper intime Porträts seiner Protagonisten. Mit den Methoden des Untergrundfilmers gewinnt er ihr Vertrauen: er setzt kein künstliches Licht ein, sondern belässt seine Gesprächspartner gegebenenfalls im schützenden Dunkel. Je zurückhaltender und leiser sie sprechen, desto brutaler sind die Verbrechen, die sie schildern. In den grobkörnigen Aufnahmen kommt gleichzeitig ihre dramatische Vereinzelung zum Vorschein: Obwohl sie von der Not der jeweils Anderen wissen, können sie sich gegenseitig nicht helfen.
Die Kehrseite des Fortschritts in Afrika drückt sich nirgendwo so deutlich wie in den Aids-Statistiken aus. Die Europäer, die den Fortschritt darin erkennen, dass ein Filetstück gemäß den strengen Lebensmittelauflagen der EU hergestellt wird, blenden das lieber aus. In wenigen Szenen lässt Sauper sich von den Betroffenen den verheerenden Kreislauf schildern, in dem der frühe Tod ihrer Männer viele Frauen und Mädchen in die Prostitution zwingt. Der örtliche Priester bedauert zwar die hohe Sterberate in seiner Gemeinde, bleibt aber streng bei seinen religiösen Grundsätzen: Nein, er rate nicht zum Gebrauch von Kondomen, weil Prostitution schließlich Sünde sei.
Was am Anfang noch idyllisch aussah, die Flugzeuge über dem See, empfindet man im Lauf des Films tatsächlich immer mehr wie ein Angriff aus Hitchcocks Vögel. Von Szene zu Szene steigert sich das Moment des Unheimlichen. Fortschritt verwandelt sich in Horror. Der Viktoriabarsch wird zur Metapher für den Raubtier-Kapitalismus, der in seiner Gier nach Expansion die eigenen Grundlagen zerstört. Das Kernstück der Globalisierungskritik, selten hat man es so effektvoll vor Augen geführt bekommen: Wo die globalisierte Weltwirtschaft ihren Handel aufbaut, entstehen um kleine Inseln des Wohlstands herum riesige Zonen des Elends.
Die Aufnahmen, die Sauper von Krüppeln und Straßenkindern, von bitterer Armut und Verwahrlosung zeigt, sind von existentieller Düsternis; nur selten bricht die afrikanische Sonne durch einen dunstigen Himmel. Jedoch sind sie weniger auf unser Mitleid ausgerichtet als auf unser Mitdenken. Die Montage der brutalen Verhältnisse verdichtet sich zum tatsächlichen Alptraum, aus dem keine Sentimentalität und keine Spendensammlung erlöst.
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