Wie ungeheuer weit der Februar 2002 in Wahrheit zurückliegt, in dem Dieter Kosslick zum ersten Mal als „Grußonkel in Chief“ am roten Teppich des Berlinale-Palasts die Gäste „seiner“ Berlinale begrüßte, lässt sich am besten über Begleitereignisse erschließen. Man stelle sich vor: Der Euro war noch druckfrisch; in den wenig eingelebten Lokalen rund um den Potsdamer Platz wurde gefühlt 1:1 umgestellt. Die Attentate vom 11. September waren gerade erst passiert. Gerhard Schröder war Kanzler. Die Hartz-Kommission beraumte die erste Sitzung an. Es gab noch kein Facebook.
Schmollende Lollo
Woran man ebenfalls erinnern muss: Die Stimmung am Potsdamer Platz war ausgezeichnet. Moritz de Hadelns Ablösung war zwar unschön
r zwar unschön abgelaufen, hatte man ihn doch gerade noch den Riesen-Job des Umzugs an den Potsdamer Platz bewerkstelligen lassen, bevor man seinen Vertrag nicht mehr verlängerte. Gleichzeitig wurde der Wechsel rundum begrüßt als frischer Wind. Unvergessen, dass davon auch gleich was zu spüren war: Mit fünf deutschen Regisseuren – Andreas Dresen, Tom Tykwer, Dominik Graf, Christopher Roth und Marc Foster – und vier mehrheitlich deutschen Produktionen (Halbe Treppe, Heaven, Der Felsen, Baader) im Wettbewerb hatte Kosslick aus dem Stand eingelöst, was als de Hadelns Unfähigkeit jahrzehntelang beklagt worden war, nämlich dem deutschen Film zur richtigen Geltung auf Deutschlands wichtigstem Festival zu verhelfen.Das ist Kosslicks großes, unbestreitbares Verdienst: In Berlin – und leider mehrheitlich nur dort – ist der deutsche Film seit 2002 wieder wettbewerbsfähig. Kein Jahr unter Kosslick, in dem nicht mindestens ein deutscher Film im Wettbewerb vertreten war, der dazu noch als tatsächlich relevant empfunden werden konnte. In den 90ern dagegen hatte der deutsche Wettbewerbsbeitrag, so es ihn gab, die Lachnummer-Rolle inne, ähnlich wie heute unter Kritikern der italienische: von vornherein mit Häme bedacht, oft berechtigt, im Einzelfall natürlich auch wieder nicht. Im Jahr 2000 war der deutsche Film des Jahres, Oskar Roehlers Die Unberührbare, nicht auf der Berlinale vertreten, was man de Hadeln persönlich ankreidete. Dass unter Kosslick Florian Henckel von Donnersmarcks späterer Oscar-Preisträger Das Leben der anderen 2006 keinen Platz auf der Berlinale fand, gereichte diesem dagegen nicht zum Schaden. Zumal in jenem Jahr mit Valeska Grisebachs Sehnsucht, Michael Glasers Der freie Wille und Oskar Roehlers umstrittener Houellebecq-Verfilmung Elementarteilchen die eigentlich interessanteren Filme vertreten waren.Das Angenehme dabei war, dass dieses Starkmachen des deutschen Films unter Kosslick eben nicht mit einer Bevorzugung bei den Preisen oder sonstiger Deutschtümelei einherging. Dabei war der Goldene Bär für Fatih Akins Gegen die Wand 2004 ein Höhepunkt sowohl für den deutschen Film als auch für die Ära Kosslick. Schließlich hatte zuletzt 1986 mit Reinhard Hauffs Stammheim ein deutscher Film die begehrte Statue von einer unwilligen Gina Lollobrigida („I was against this film“) entgegengenommen. Anders als der nicht gut gealterte Stammheim ist Akins Film auch 15 Jahre später noch eine Art Traumkandidat. Gegen die Wand setzt emotionale Wucht und Intensität ins Zentrum und sowohl sein deutsch-türkisches „Thema“ als auch die Ästhetik ordnen sich ganz dieser Logik unter. Ungeheuer frei wirkt dieser Film, gemacht mit dem Wagemut eines Anfängers, der sich noch nicht rechtfertigen muss.Oscar-OpferVon heute aus gesehen sagen böse Zungen: Die Ära Kosslick war damit schon ausgereizt. Aber das greift willentlich zu kurz. Zwar erlitt die Filmauswahl mit der Oscar-Verlegung von Ende März auf Ende Februar eine empfindliche Einschränkung. Wo früher noch der eine oder andere Oscar-Anwärter den arbeitsamen deutschen Hauptstadtflair nutzte, um für die Nominierungen zu punkten – 2003 etwa war der spätere Gewinner Chicago Berlinale-Eröffnungsfilm –, sind nach dem neuen Kalender die Nominierungen durch, bevor in Berlin der rote Teppich ausgerollt wird. Seither ist man dankbar für die Richard Linklaters und Wes Andersons der amerikanischen Filmwelt, die in ihren Filmen den einen oder anderen Star besetzen, sich bei den Oscars nicht allzu viele Chancen ausrechnen und also nach Berlin kommen. Und obwohl die Berlinale einen schönen Lauf hat, was die Kandidaten in der Auslandsfilm-Kategorie anbelangt – mit „Siegerfilmen“ wie Asghar Farhadis Nader und Simin 2012 und Sebastián Lelios Una mujer fantástica im vergangenen Jahr –, vermisst man „Hauptkandidaten“ wie etwa Paul Thomas Andersons There will be Blood, der als Letzter seiner Art 2008 in Berlin vertreten war.Placeholder infobox-1Mit jedem Jahr wurden seither die Klagen darüber lauter, dass nicht genug Stars da seien und die Berlinale ihr Etikett, das „politischste“ unter den Festivals zu sein, zu wörtlich nehme und zu viele Filme mit guten Absichten, aber schlechter Ausführung zeige. Bis schließlich im vorvergangenen Jahr ein öffentlicher Brief, unterschrieben von 79 Filmschaffenden, eine definitive künstlerische Neuausrichtung mit dem Ende von Kosslicks Vertrag 2019 forderte.Man kann verstehen, dass Kosslick diesen Brief als verletzenden Frontalangriff empfunden haben muss. Aber die anschließende Debatte machte auch klar, dass er an den dort geäußerten Ansprüchen tatsächlich vorbeigearbeitet hatte. Seine Leitung stand in der Tat nie für eine strenge Auslese, die sich mit der Frage auseinandersetzt, wie es um die ästhetische Zukunft des Kinos bestellt sei. Stattdessen baute er die Berlinale mit immer neuen Reihen und Sektionen wie etwa zum Kulinarischen Kino oder zum indigenen Film NATIVe zur riesigen Promotionsfläche für das Kino als Ganzes aus. Dieser Ausbau mag den Kritikern nicht behagen, aber er kann sich auf den Zeitgeist der Spezialinteressen von „ökologisch“ über „lokal“ bis zur gerechten Repräsentation berufen. Diese Breite ist in der Ära Kosslick zum Hauptcharakterzug der Berlinale geworden, im Guten wie im Schlechten. Einerseits sind da 340.000 verkaufte Tickets, mit denen sich die Berlinale als zutiefst demokratisches Festival ausweist, das in Kombination mit einem bestens organisierten Ablauf punktet, der manchmal gemütlicher gestaltet sein könnte, aber dazu besseres Wetter bräuchte. Andererseits ist da die in der Fülle des Programms untergehende Möglichkeit, sich einen sinnvollen Überblick zu verschaffen und eine filmästhetische Debatte zu führen.Tatsächlich ist die Berlinale für Kritiker ein nahezu demütigendes Erlebnis: Sobald man den abgesteckten Rahmen der Pressevorstellungen verlässt, muss man feststellen, dass nicht nur scheinbar jeder Film auf das heiße Interesse einer eingeschworenen Gemeinde trifft, und sei es das der in Berlin lebenden Exilanten seines Herkunftslands, nein, das beklagte Überangebot wird vom Publikum draußen nicht als solches wahrgenommen. Sondern im Gegenteil, der Hunger nach Filmen scheint unersättlich. So wie Berlin eine Stadt der Kieze und Szenen ist, die friedlich und ignorant nebeneinanderher existieren, so gleicht die Berlinale unter Kosslick einem Tummelplatz der Spezialinteressen, wo nicht die große Masse als Ganzes, aber viele, viele Einzelne auf ihre Kosten kommen.So berechtigt man die Breite des Berlinale-Filmangebots für ihre mangelnde Trennschärfe und Beliebigkeit kritisieren kann, so klar steht auch vor Augen, wie sehr man ebendiese Fülle vermissen wird, sobald es sie nicht mehr gibt. Mit der Person Dieter Kosslick verhält es sich ganz ähnlich. Für seinen Mut zum schlechten Witz und zum schlechten Englisch konnte man sich fremdschämen, man konnte den Kopf schütteln über die Beliebigkeit seiner programmatischen Aussagen. Aber zugleich war Kosslicks Auftreten stets erfrischend dünkelfrei. Man musste zu keinem cinephilen Club gehören, um sich bei ihm willkommen zu fühlen. „Der Dieter“ war zugänglich und nahbar, und so war auch das Festival, für das er stand.
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