Bei aller Verehrung und Bewunderung belegen die bereits erschienenen Nachrufe vor allem eines: Eine Beschäftigung mit Ingmar Bergman war noch nie ein reines Vergnügen. Nicht nur deshalb, weil der Regisseur selbst vor einigen Jahren hatte verlauten lassen, er schaue die eigenen Filme nicht mehr an, sie deprimierten ihn zu sehr. Dem Betrachter eines Bergman-Films droht Niedergeschlagenheit noch von ganz anderer Seite. In Form von Trauer um eine Epoche, in der Werke wie Von Angesicht zu Angesicht (1976) und Herbstsonate (1978) als eher minderwertig eingestuft wurden, weil man Filme wie Das Schweigen (1963), Persona (1966) oder Schreie und Flüstern (1972) als Maßstab setzte. Eine Epoche, in der es nicht nur unter Cinephilen, sondern in den breiten Kreisen aller Kulturinteressierten als selbstverständlich galt, sowohl die Meisterwerke des Schweden als auch seine "minderen" Filme zu kennen. Und das nicht nur im Heimatland des Regisseurs, sondern in Europa und weit darüber hinaus. Bergman, so schrieb vor wenigen Monaten der amerikanische Kritiker Joe Queenan im britischen Guardian, sei der Inbegriff des foreign films; und um klarzustellen, dass im Kino dieses "foreign" für den Englisch-Muttersprachler keineswegs mit "ausländisch" zu übersetzen sei, definierte er: "foreign" das heißt in diesem Zusammenhang "ernsthaft", "anspruchsvoll" und "ohne Barbara Streisand, Clint Eastwood, vor allem aber ohne Robin Williams".
Jedes Gedenken an Ingmar Bergman verführt also unweigerlich zum Kulturpessimismus: So etwas gibt es heute nicht mehr. Dieses "so etwas" umfasst verschiedene Aspekte. Als erstes wäre da eben die große Ernsthaftigkeit, die das Bergman´sche Oeuvre ausmacht. Zwar hat Bergman auch einige Komödien gedreht, zu seinem Markenzeichen aber sind die Psychodramen, die "Innerlichkeitsfilme" geworden, in denen Themen wie Todesangst, Wahnsinn, Elternhass oder Gefühlskälte abgehandelt wurden. Deshalb mag es zunächst paradox anmuten, dass ein versierter Komiker wie Woody Allen sich immer wieder als Bergman-Verehrer geoutet hat - und das sowohl in Interviews als auch in seinen Filmen, in denen sich Anspielungen auf die Werke des schwedischen Regisseurs zuhauf entdecken lassen. Das Besondere ist nun, dass Allens Parodien die Bergman´schen Vorlagen nicht lächerlich oder klein machen, sondern im Gegenteil: Sie bringen deren existentielle Dimension erst recht zu Bewusstsein. Was Bergman in seinen Filmen ausleuchtet, ist oft nicht gerade einfach zu bewältigen. Ein bisschen Allen´scher Humor kann da nur helfen.
In Schreie und Flüstern zum Beispiel steht eine krebskranke Frau im Mittelpunkt, die weiß, dass sie bald sterben wird. Ihre zwei Schwestern sind unfähig, ihr Zuwendung zu spenden, einzig bei der Bediensteten Anna, die selbst ein Kind verloren hat, findet die Sterbende momentan Trost. Von Angesicht zu Angesicht handelt von einer Frau, die einen langsamen, aber unausweichlichen psychischen Zusammenbruch erleidet. In Persona bildet ein Nervenzusammenbruch den Ausgangspunkt einer im wahrsten Sinne des Wortes "unheimlichen" Übertragung von verstummter Patientin auf die plaudernde Krankenschwester. Zum einen mag in dieser Aufzählung auffallen, wie häufig erwachsene Frauen bei Bergmann die Hauptrollen ausfüllen - auch das gehört zu den im heutigen Kino rar gewordenen Aspekten. Zum anderen verstärkt sich die Gewissheit, dass Bergman keine Unterhaltungsstoffe verfilmte. Doch nicht allein die Thematisierung von Leid war das Besondere an ihm, sondern dass er der Versuchung widerstand, die Konflikte durch Autorenallmacht zu lösen. Immer wieder geht es um das Ausloten unglücklicher Lebensentwürfe, und keine zufällige Begegnung, kein meeting cute kann sie korrigieren, wie es das Hollywood-Kino so gerne tut. Bergmans Filme reißen Wunden auf, bei ihm nehmen die Dinge keine Wendung zum Guten; sie werden einfach anders.
"Das Einzige, das ich durch das Altern hinzugewonnen habe, ist Erfahrung," sagt die von Liv Ullman gespielte Figur der Marianne in Szenen einer Ehe (1973). Auch in diesem, dem nicht zuletzt durch seine Fernsehausstrahlungen wohl bekanntesten aller Bergman-Filme, wird nach der Trennung des einst doch so zufriedenen Paares nichts mehr "gut". Und trotzdem steht am Ende nicht die absolute Depression, sondern jene Mischung aus Bedauern und Akzeptanz, die im realen Leben das einzig zu verwirklichende Happy End darstellt.
Im Vergleich zum kunstvollen Bildaufbau in Persona, oder dem ausgesuchten Spiel mit den Farben in Schreie und Flüstern erscheinen die Szenen einer Ehe im Übrigen von bestechender Schlichtheit. Close-up reiht sich hier an Close-up, Dialog an Dialog. Auf den ersten Blick ist das die Formensprache des schlechten Fernsehens. Gleichzeitig aber geht von der Klarheit und Präzision der Einstellungen eine hypnotische Wirkung aus, der man sich kaum entziehen kann. Wo sich keine extravaganten Kompositionen und keine inszenierten Symbole ausmachen lassen, wird Bergmans Kunst zu einer unsichtbaren Autorität, die hintergründig Einfluss nimmt. Sie bezieht ihre Kraft aus dem Mut, die Augen vor den dunklen Seiten nicht zu verschließen und Ambivalenzen auszuhalten. In Szenen einer Ehe gibt es keine Aufteilung in Gut und Böse, Opfer und Täter, wahre oder falsche Liebe, noch nicht einmal in ein glückliches Vorher und unseliges Nachher. Abseits der gängigen Versatzstücke des Liebesdiskurses gelingt Bergman dafür eine so nüchtern wie erhellende Erkundung dessen, was Menschen lebenslang miteinander verbindet.
Fanny und Alexander von 1982 war Bergmans letzter Film, der regulär ins Kino gebracht wurde. Als Einstieg in sein Werk eignet er sich hervorragend, weil der Film auch den Bergman-skeptischen Zuschauer mit seiner üppigen und farbenprächtigen Eingangssequenz abholt. Jenes sinnenfreudige Weihnachten in Großfamilie, das hier zu Beginn gefeiert wird, ist ein gesamteuropäisches Ideal, ein ewiger Kindheitstraum. Für die beiden Titelhelden, den zehnjährigen Alexander und seine etwas jüngere Schwester markiert die Feier das Paradies, aus dem sie sich durch den Tod des Vaters bald vertrieben sehen. Ihre Mutter heiratet den Bischof und mit dem Umzug ändert der Film radikal Farb- und Tonlage. Es wird grau und düster, man ist im Bergmanesken angekommen. In der Gegenüberstellung aber zeigt der Regisseur, wie eng diese beiden Welten zusammenhängen, das bunte Reich der Kindheit und das graue des Erwachsenwerdens - und dass die Depression zum Leben gehört.
Ingmar Bergman verstarb im Alter von 89 Jahren am vergangenen Montag in seinem Haus auf der Insel Farö. Seine Tochter ließ verlauten, er sei friedlich eingeschlafen.
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