Als „in Grau gehüllte Goldgrube“ beschreibt Filmemacher Christoph Eder sein Heimatdorf Göhren zu Beginn. Dazu sieht man ein paar Kinder, die mit einer Mutter fröhlich in den Wellen der Ostsee planschen, alle auf selbstverständliche Weise nackt. Es sind Home-Movie-Szenen aus einer heute als idyllisch empfundenen Vergangenheit. Später zeigt Eder Aufnahmen vom Göhren der Gegenwart und gesteht dazu, nicht ohne Melancholie, aus dem Off: „Vom Göhren meiner Kindheit ist nicht mehr viel übrig.“
Eine ähnliche Beobachtung werden viele gemacht haben, die an der Ostsee aufgewachsen sind, oder besser noch: in einem der fünf neuen Bundesländer. Und in ihrer Grundsätzlichkeit ist das eine Erfahrung, die sogar in Westdeutschland nicht unbekannt ist und von einigen geteilt wird. Was ja auch die große Anziehungskraft von Eders Film ausmacht: Wem gehört mein Dorf? ist der Prototyp eines Sujets, das absolut speziell, weil lokal, in einer 1.300-Seelen-Gemeinde, verortet ist und gleichzeitig universell und global nachvollziehbar scheint.
Die Umstände, von denen Eders Film erzählt, wirken deshalb auf den ersten Blick fast wie Klischees, so oft hat man von solchen Konstellationen schon gehört. Auf der einen Seite die „gutgläubigen“ Bewohner, die sich 1990 nach der Wiedervereinigung einen Aufbruch in bessere Zeiten erhoffen; auf der anderen Seite der Investor aus Westdeutschland, der zunächst als großzügig und dann zunehmend als profitorientiert empfunden wird. Dazu kommen 30 Jahre Entwicklung, die den gesamten Tourismus an der Ostsee betreffen – immer mehr Gäste, immer mehr Ferienwohnungen, immer mehr Eigentümer, die anderswoher kommen. Doch nicht jede Veränderung ist schlecht: Die vergangenen 30 Jahre haben auch vielen Ostsee-Anwohnern zu Wohlstand verholfen und vielen vernachlässigten und verfallenden Gebäuden zu neuem, renoviertem Glanz.
Einfluss nehmen? Das geht!
Man könnte das Thema breit angehen. Eder aber entschließt sich, eng am Beispiel Ostseebad Göhren und an dessen Problemen zu bleiben. Sein Film ist einerseits eine Momentaufnahme – die Konflikte, von denen er erzählt, sind am Ende nicht unbedingt gelöst –, andererseits eine Ermutigung. Denn worauf es Eder noch mehr ankommt als auf die Frage, ob nun am Göhrener Südstrand gebaut werden wird oder nicht, ist die Tatsache, dass solche Dinge im Gemeinderat entschieden werden, von Göhrener Bürgern, und das bedeutet, dass diejenigen, die wählen gehen, darauf Einfluss nehmen können.
Obwohl Eder sich recht offen auf die Seite derer stellt, die zukünftig weniger Flächen bebauen und mehr Dinge lassen wollen, „wie sie sind“, ist Wem gehört mein Dorf? kein Agitpropfilm. Eder versucht, auch Kontrahenten zu Wort kommen zu lassen und die Argumente beider Seiten zu hören. Dass er dabei auf Schwierigkeiten stößt, weil eben nicht alle mit allen reden wollen, gehört zu den bedauerlichen Zügen unserer Zeit. Um den Streit über ein Parkhaus am Hang in alle Verästelungen hinein nachvollziehen zu können, bräuchte es wahrscheinlich die Ausdauer eines Frederick Wiseman; dessen jüngster Film, eine Beobachtung der Kommunalpolitik in der Stadt Boston mit dem Titel City Hall, dauert aber ganze viereinhalb Stunden.
Eder begnügt sich mit knappen 96 Minuten, in denen zwangsläufig nicht alles vorkommen kann. Wer sind die „Vier von der Stange“, diese „Sportsfreunde“ aus Göhren, die mit ihrem Abstimmungsverhalten dem Investor aus Westdeutschland so oft den Boden bereitet haben? Gerne würde man Genaueres darüber erfahren, vor welchem Hintergrund sie ihre Ansichten geformt haben und mit welchen Vorstellungen sie ihre Visionen von „mehr Entwicklung für Göhren“ verbinden. Über den bis vor kurzem amtierenden Bürgermeister, der sich von ihnen oft überstimmt sah, erfährt man mehr, aber auch hier hält Eder einen diskreten Abstand ein, der seinen Film einerseits angenehm unaufdringlich macht, andererseits aber auch die Neugier gehörig anstachelt. Was zur besonders bedenklichen Nebenwirkung dieses interessanten und brisanten Films führt: Am Ende möchte man unbedingt nach Göhren fahren, um sich vor Ort selbst ein Bild zu machen.
Info
Wem gehört mein Dorf? Christoph Eder Deutschland 2021, 96 Minuten
Kommentare 2
ja, in vor-ankündigungen war schon viel gutes
über diese filmische reflektion von "entwicklung" und projekte-macherei
zu hören und sehen.
Eine Zwickmühle – nicht allein in Göhren an der Ostsee, sondern überall da, wo Einwohner- und Investoreninteressen aufeinanderprallen. Dass 96 Minuten nur einen Ausschnitt liefern können, einen Spot, liegt angesichts der Kleinlagen vor Ort auf der Hand. Wobei mit einzupreisen ist, dass oft-allzuoft auch staatliche und semistaatliche Akteure in diesem Realmonopoly mitmischen. Beispiel: Mittelrheintal. Eine Idylle, die zwar vom Tourismus lebt, von diesem allein jedoch nicht mal ansatzweise leben kann. Die Tourismusangebote dort werden zum Großteil zwar von lokalen Anbietern gestellt. Die Verkehrsinfrastruktur dort ist allerdings am Boden. Der kleinere Grund, die Privatisierungswelle in dem Sektor machte es möglich: Hyänen der Schiene, welche den öffentlichen Nahverkehr im Modus »Zitrone auspressen und nichts investieren« betreiben. Der größere: Das enge Mittelrheintal ist Transitröhre – genauer gesagt: die Müllkippe – für den Güterfernverkehr, welcher ohne Rücksicht auf Verluste durch das Tal geschickt wird.
Die Folgen: Grundstückspreise fallen ins Bodenlose – während die Landwirtschaft in den umliegenden Höhenregionen im Subsistenzmodus betrieben wird, weil allerorten die Anbindungen fehlen. Dem Staat indess – hier speziell präsent durch das Land Rheinland-Pfalz – ist es wichtiger, die lukrative Ferngüterverkehr-Schiene zu fahren, um damit die großen exportproduzierenden Unternehmen zu pampern. Die Anwohner(innen) im Mittelrheintal gehen – ähnlich wie die in Göhren – bereits seit Jahrzehnten auf die Barrikaden. Genutzt hat es bislang nichts. Politiker(innen) wie auch die Ministerpräsidentin Malu Dreyer tauchen allenfalls dann vor Ort auf, wenn eine Katastrophe wie in der Eifel passiert ist und ein paar nette Medienbilder drin sind.
Ich denke, letztlich wird es auch in Göhren nicht viel anders laufen. Aber Danke für die Filmempfehlung – für einen Film, der – wenn es richtig laufen würde – um 20.15 Uhr in der ARD laufen müßte.