Göhren und der Profit

Film Kommunalpolitik als Lösung: die Rügen-Doku „Wem gehört mein Dorf?“
Ausgabe 32/2021

Als „in Grau gehüllte Goldgrube“ beschreibt Filmemacher Christoph Eder sein Heimatdorf Göhren zu Beginn. Dazu sieht man ein paar Kinder, die mit einer Mutter fröhlich in den Wellen der Ostsee planschen, alle auf selbstverständliche Weise nackt. Es sind Home-Movie-Szenen aus einer heute als idyllisch empfundenen Vergangenheit. Später zeigt Eder Aufnahmen vom Göhren der Gegenwart und gesteht dazu, nicht ohne Melancholie, aus dem Off: „Vom Göhren meiner Kindheit ist nicht mehr viel übrig.“

Eine ähnliche Beobachtung werden viele gemacht haben, die an der Ostsee aufgewachsen sind, oder besser noch: in einem der fünf neuen Bundesländer. Und in ihrer Grundsätzlichkeit ist das eine Erfahrung, die sogar in Westdeutschland nicht unbekannt ist und von einigen geteilt wird. Was ja auch die große Anziehungskraft von Eders Film ausmacht: Wem gehört mein Dorf? ist der Prototyp eines Sujets, das absolut speziell, weil lokal, in einer 1.300-Seelen-Gemeinde, verortet ist und gleichzeitig universell und global nachvollziehbar scheint.

Die Umstände, von denen Eders Film erzählt, wirken deshalb auf den ersten Blick fast wie Klischees, so oft hat man von solchen Konstellationen schon gehört. Auf der einen Seite die „gutgläubigen“ Bewohner, die sich 1990 nach der Wiedervereinigung einen Aufbruch in bessere Zeiten erhoffen; auf der anderen Seite der Investor aus Westdeutschland, der zunächst als großzügig und dann zunehmend als profitorientiert empfunden wird. Dazu kommen 30 Jahre Entwicklung, die den gesamten Tourismus an der Ostsee betreffen – immer mehr Gäste, immer mehr Ferienwohnungen, immer mehr Eigentümer, die anderswoher kommen. Doch nicht jede Veränderung ist schlecht: Die vergangenen 30 Jahre haben auch vielen Ostsee-Anwohnern zu Wohlstand verholfen und vielen vernachlässigten und verfallenden Gebäuden zu neuem, renoviertem Glanz.

Einfluss nehmen? Das geht!

Man könnte das Thema breit angehen. Eder aber entschließt sich, eng am Beispiel Ostseebad Göhren und an dessen Problemen zu bleiben. Sein Film ist einerseits eine Momentaufnahme – die Konflikte, von denen er erzählt, sind am Ende nicht unbedingt gelöst –, andererseits eine Ermutigung. Denn worauf es Eder noch mehr ankommt als auf die Frage, ob nun am Göhrener Südstrand gebaut werden wird oder nicht, ist die Tatsache, dass solche Dinge im Gemeinderat entschieden werden, von Göhrener Bürgern, und das bedeutet, dass diejenigen, die wählen gehen, darauf Einfluss nehmen können.

Obwohl Eder sich recht offen auf die Seite derer stellt, die zukünftig weniger Flächen bebauen und mehr Dinge lassen wollen, „wie sie sind“, ist Wem gehört mein Dorf? kein Agitpropfilm. Eder versucht, auch Kontrahenten zu Wort kommen zu lassen und die Argumente beider Seiten zu hören. Dass er dabei auf Schwierigkeiten stößt, weil eben nicht alle mit allen reden wollen, gehört zu den bedauerlichen Zügen unserer Zeit. Um den Streit über ein Parkhaus am Hang in alle Verästelungen hinein nachvollziehen zu können, bräuchte es wahrscheinlich die Ausdauer eines Frederick Wiseman; dessen jüngster Film, eine Beobachtung der Kommunalpolitik in der Stadt Boston mit dem Titel City Hall, dauert aber ganze viereinhalb Stunden.

Eder begnügt sich mit knappen 96 Minuten, in denen zwangsläufig nicht alles vorkommen kann. Wer sind die „Vier von der Stange“, diese „Sportsfreunde“ aus Göhren, die mit ihrem Abstimmungsverhalten dem Investor aus Westdeutschland so oft den Boden bereitet haben? Gerne würde man Genaueres darüber erfahren, vor welchem Hintergrund sie ihre Ansichten geformt haben und mit welchen Vorstellungen sie ihre Visionen von „mehr Entwicklung für Göhren“ verbinden. Über den bis vor kurzem amtierenden Bürgermeister, der sich von ihnen oft überstimmt sah, erfährt man mehr, aber auch hier hält Eder einen diskreten Abstand ein, der seinen Film einerseits angenehm unaufdringlich macht, andererseits aber auch die Neugier gehörig anstachelt. Was zur besonders bedenklichen Nebenwirkung dieses interessanten und brisanten Films führt: Am Ende möchte man unbedingt nach Göhren fahren, um sich vor Ort selbst ein Bild zu machen.

Info

Wem gehört mein Dorf? Christoph Eder Deutschland 2021, 96 Minuten

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Barbara Schweizerhof

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Film“ (Freie Mitarbeiterin)

Barbara Schweizerhof studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und arbeite nach dem Studium als freie Autorin zum Thema Film und Osteuropa. Von 2000-2007 war sie Kulturredakteurin des Freitag, wechselte im Anschluss zur Monatszeitschrift epd Film und verantwortet seit 2018 erneut die Film- und Streamingseiten im Freitag.

Avatar

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden