Große Tiere, kleine Menschen

FESTIVALPREMIERE "GoEast", Festival des mittel- und osteuropäischen Films in Wiesbaden, bringt alte Meister und Newcomer zusammen und setzt auf Fortsetzung und zunehmendes Interesse

Für eine kurze Zeit war Osteuropa im ausgehenden 20. Jahrhundert im Westen wahrhaftig en vogue; es war die Zeit der zwei Zauberworte, deren schnöde Übersetzung "Öffentlichkeit" und "Umbau" die geheimnisvolle Anziehungskraft von glasnost und perestrojka mitnichten zum Ausdruck bringt. In ihrem Schlepptau war für wenige Jahre alles, was aus dem Osten kam, interessant und betrachtenswert. Heutzutage ist Osteuropa alles andere als "hip". Das merkt man nicht zuletzt daran, dass ein Festival, welches ost- und mitteleuropäische Filme einer westdeutschen Stadtöffentlichkeit präsentieren will, dafür mit dem bemüht-flotten englischen Slogan "goEast" zu werben sich bemüßigt fühlt. Unter diesem Namen richtet das Deutsche Filmmuseum Frankfurt von nun an jährlich in Wiesbaden ein Filmfestival aus, das den kriselnden und für den Durchschnittswesteuropäer gänzlich aus dem Kreis des Interesses geratenen Kinematografien des ehemaligen Sozlagers ein Forum bieten will. Kein sehr populäres Unterfangen. Sollte der poppige Slogan jedoch tatsächlich helfen, das Interesse an diesem Teil Europas wieder neu zu beleben, um so besser.

Interesse ist stets auch eine Frage des Kontextes. Das scheint man in Wiesbaden wohl bedacht zu haben und greift deshalb auf zwei bewährte Formen der Kontextualisierung zurück: Retrospektiven und Diskussionsforen begleiten das Wettbewerbsprogramm, aus dem in diesem Jahr eine Jury unter dem Vorsitz von Krzysztof Zanussi die Preisträger auswählte. Eine der Retrospektiven war Alexander Puschkin und den deutschen und russischen Verfilmungen seiner Werke gewidmet, womit man zum einen auf die klassische russische Literatur setzte, zu der man in Deutschland immer noch den besten Zugang hat, und zum anderen einen lokalen Bezug herstellen konnte, lebt doch eine Ur-Ur-Enkelin des Dichters in Wiesbaden.

Weniger klassisch und dafür von aktueller politischer Brisanz gestaltete sich das Symposium Das Bild des anderen: Kaukasus, organisiert und geleitet vom ausgewiesenen Kenner der osteuropäischen Filmlandschaft, Hans-Joachim Schlegel. Mit einer Reihe aus aktuellen und historischen Filmbeispielen sowie einer dreitägigen Konferenz wurde hier einerseits über Gründe und Ursprünge der ethnischen Konflikte in der Region und andererseits über deren Niederschlag im Kino diskutiert. Wie bei diesem Thema nicht anders zu erwarten, verliefen die Debatten zugleich angeregt und aufgeregt, begleitet von so manchem Missverständnis und manchmal im Unklaren darüber, ob man nun über die Wirklichkeit oder doch "nur" über das Kino stritt. Klar trat jedoch die ungeheure Chance dieser Veranstaltungsform zu Tage, nämlich nicht nur den Regisseuren, sondern auch den Filmkritikern und -Wissenschaftlern aus Osteuropa ein Forum zu bieten, ihre Forschungen und Gedanken einem westlichen Publikum nahezubringen.

Auf diese Art der Zusammenarbeit ist die Rezeption im Westen nämlich geradezu angewiesen, hat man es doch filmgeschichtlich keineswegs mit Entwicklungsländern zu tun, sondern eher mit verfallenden Imperien, wo kundige Ausgrabungen erhellende Entdeckungen zu Tage fördern können. Eine solche war zum Beispiel der Dokumentarfilm Das Land Nahco (Tschetschenien) aus dem Jahre 1929, der heftige Reaktionen auf dem Symposium hervorrief: Zwar wird hier einerseits die zaristische Kolonialpolitik und ihr gängiges Stereotyp des tschetschenischen Banditen als Propaganda gegeißelt und widerlegt, andererseits aber das Bild eines armen Bergvolkes, das sich nur mühsam der Modernisierung öffnet, festgeschrieben. Im Versuch, dem "Fremden" in seiner Andersartigkeit Respekt zollen zu wollen und dabei gleichzeitig die eigenen Werte eines "modernen" Lebens unhinterfragt zentral zu setzen, stellt dieser frühe Dokumentarfilm ein bezeichnendes Beispiel dar, das an Aktualität nichts eingebüßt hat.


Ihr bekommt unsere besten Filme zu sehen, während bei uns nur eure schlechtesten in die Kinos kommen", so lautete bereits vor Jahren die Klage einer russischen Kritikerin gegenüber dem Westen, und nicht nur die Retrospektiven in Wiesbaden können durchaus als Beleg für den ersten Teil dieser These betrachtet werden. Auch im Wettbewerb waren mit Jerzy Stuhr, Kira Muratova, Bela Tarr und Oleg Jankovskij eine ganze Reihe prominenter Regisseure und Schauspieler vertreten, deren Karrieren symptomatisch die Lage der Kinowirtschaft in ihren Ländern abbilden: Obwohl arriviert und angesehen, kann jedes neue Projekt nur unter Schwierigkeiten und mit knappsten Mitteln realisiert werden. Und sehr oft sind diese Produktionen in ihren Heimatländern dann kaum zu sehen.

Den spezifischen Charme des osteuropäischen Kinos in seiner Bandbreite zu studieren, dafür erweist sich Wiesbaden also als privilegierter Ort, auch wenn ein Teil der Filme bereits auf anderen Festivals zu sehen war. Wie zum Beispiel der ungarische Film Passport von Peter Gothar, der mit dem Preis für die beste Regie ausgezeichnet wurde: In fast dokumentaristischer Schlichtheit wird hier das Schicksal von Jelisaweta nachgezeichnet, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben ihre heimatliche Ukraine verlässt, um einen ungarischen Bauern zu heiraten. Gothars Film ist unpsychologisch und konfrontiert deshalb umso härter mit den trostlosen sozialen Zuständen in einer Ecke Europas, die völlig abseits jeder medialen Aufmerksamkeit liegt. Aber in seiner sorgfältig einfachen Kameraarbeit erfüllt er auch nicht das Bild der schwarzmalerischen Gegenromantik, die sich am aussichtslosen Elend weidet, sondern hält gewissermaßen einen respektvollen und sympathisierenden Abstand zu seiner Heldin im unermüdlichen Überlebenskampf. Den Erwartungen eines westlichen Publikums kommt er sowohl in der stilistischen Unmittelbarkeit, wie auch in der Wahl des sozialen Themas in gewisser Weise entgegen und vielleicht könnte man sogar sagen, dass Gothars Film dem osteuropäischen Kino entspricht, das der Westen gerne hätte: sozial engagiert und nicht zu kompliziert, was aber keineswegs gegen den Film spricht.

Je "eigener" die Stoffe, desto größer werden die Schwierigkeiten der Rezeption, es sei denn, die arabesken Formen der Exotik verwandeln Befremden in Bewunderung. In Wiesbaden war eine ganze Reihe Literaturverfilmungen zu sehen, die dies verdeutlichten und darüberhinaus ganz verschiedene Wege eines "armen" Kinos aufzeigten. Der Tscheche Jaroslav Brabec verfilmte in Das melancholische Küken ein ländliches Melodram und scheitert ehrenvoll an den Anforderungen, mit beschränkten Mitteln die ausufernde Gefühlswelt eines vergangenen Jahrhunderts zu illustrieren; Valentin Kuik aus Estland überträgt in Eine Sache der Ehre eine Novelle Vladimir Nabokovs in die heutige Zeit und vermag doch die Spannung des Originals in seinem kargen Erzählstil nicht zu halten. Aus der Not eine Tugend zu machen gelang am ehesten dem Aserbaidschaner Murad Ibragimbekov, der sich in Wahre Geschichten gleich mehrere Erzählungen Michail Soschtschenkos vornahm. Es sind die spezifischen Zustände der frühen Sowjetunion, die der Autor mit seinem ganz eigenen Humor aufs Korn nimmt. Ibragimbekov versucht dafür eine eigene Filmsprache zu finden, schwarz-weiß und mit Schauspielern, die wie im frühen Stummfilm agieren, doch wird diese Stilisierung an entscheidenden Stellen immer wieder ironisch gebrochen - eine Art leiser Humor, der dem Soschtschenkos tatsächlich nicht ganz unähnlich ist.

Vielleicht haben die Dokumentaristen es ja einfacher, mit wenig Mitteln Erstaunliches zu erzählen, nicht umsonst gingen gleich zwei lobende Erwähnungen der Jury an Dokumentarfilme. In Neue Zeiten in der Querstrasse kehrt der Lette Ivars Seleckis nach über zehn Jahren in ein Viertel Rigas zurück, das er damals schon porträtiert hatte und macht dabei eine Fülle von kleinen, aber bezeichnenden Beobachtungen, die tatsächlich seismographisch die "neue Zeit" bebildern. Der Film Verweht führt weit in den Norden Russlands in eine Kleinstadt, die der stete Wind mit Sand bedeckt und wo trotz allen Widrigkeiten immer noch Menschen wohnen, mit den verschiedensten und eigensten Motiven, die sie angesichts der unwirtlichen Schönheit der Landschaft den Filmern anvertrauen. Beide Filme bedienen, wenn man so will, ein typisch osteuropäisches Thema: das der kleinen Leute und ihrer eigensinnig-schrulligen Überlebensweisen.

Dieses beliebten Themas nimmt sich Kira Muratova in ihrem neuesten Film Menschen zweiter Klasse auf ganz andere Weise an. Ihr Film, der Musical- und Vaudeville-Elemente enthält, aber als Krimikomödie nur sehr unzureichend beschrieben wäre, ist am ehesten eine Versuchsanordnung, eine bloße Skizze. Ihre Figuren lässt sie durch die infrastrukturarmen Neubau-Viertel der Neureichen staksen, wo den einen schon das Geld zum Fertigbauen ausgeht, während die anderen auf ihrem Gartengrundstück noch Landwirtschaft betreiben. Die Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit der Lebensverhältnisse findet ihre Entsprechung im schlecht ausbalancierten Innenleben, dem die Schauspieler in hysterischer Manieriertheit Ausdruck verleihen. Muratovas Film mit seinem betont "unfertigen" Charakter ähnelt einem Versprechen, wie Filme aus Osteuropa sein könnten, wenn die Mittel es erlaubten.

Menschen zweiter Klasse erhielt zusammen mit Jerzy Stuhrs Das große Tier den Hauptpreis des Festivals. So zukunfts- und dem experimentellen zugewandt Muratovas Film ist, so retrograd erscheint auf den ersten Blick Das große Tier. Nach einem Drehbuch des jungen Krzysztof Kieslowski, das seinerzeit nicht realisiert werden konnte, trägt der Film noch ganz die Züge jener "östlichen Absurde", die der Westen routiniert als systemkritische Parabeln zu entschlüsseln wusste. Von einem Wanderzirkus zurückgelassen läuft einem einfachen Buchhalter und seiner Frau ein Kamel zu. Ganz den Regungen ihrer menschlichen Herzen folgend, nimmt sich das Ehepaar des großen Tieres an und muss dafür allerlei behördliche Unbill und nachbarlichen Spott ertragen. In melancholischem Schwarz-Weiß gedreht und eher arm an Dialogen, ist der Film doch mehr als eine Satire über kleinstädtische Borniertheit: Das monströse Tier, zu dem das Ehepaar eine tiefe Zuneigung fasst und das sich beim besten Willen nicht in den Alltag einer polnischen Kleinstadt fügen will, wird zum Abbild sonst verborgener, entsprechend monsterhafter Wünsche nach dem ganz anderen - eine Art auf das Unbekannte gerichtete Begehrlichkeit, wie sie das gesamte Osteuropäische Kino als Gegenmodell zum kommerziellen amerikanischen immer wieder auf sich zieht - und von Zeit zu Zeit sogar erfüllt.

Für Sie oder Ihren Hasen

6 Monate den Freitag mit Oster-Rabatt schenken und Wunschprämie aussuchen

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden