Gruben-Glück

Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm 2005 Der Schwerarbeit des industriellen Zeitalters wird ein Denkmal gesetzt

Deutlich wie selten gab es dieses Jahr unter den gezeigten Filmen in Leipzig ein Leitthema: die Minenarbeit. Als letzte Bastion eines stolzen Arbeiter-Ethos zeigte sie der britische Kurzdokumentarfilm Last Men Standing in Wales; als randständige Perversion einer einst großen Schwerindustrie filmte sie der Österreicher Michael Glawogger in der Donbass-Sequenz seines Workingman´s Death; als pikante Abenteuer-Attraktion für Rucksacktouristen tauchte sie in der chilenischen Produktion Can´t do it in Europe in den Silberminen von Bolivien auf. Und damit sind längst noch nicht alle Filme und Stellen aufgezählt. Ganz offenbar ist den Dokumentarfilmern von heute die Minenarbeit eine gültige Metapher für den "Niedergang der Arbeitsgesellschaft", für jenes manchmal auch nur vage Gefühl, dass mit der Zurückdrängung der Arbeitsformen, die die Epoche der Industrialisierung begründeten, eine ganze Zivilisation ihre Ordnung verliert.

Glawogger führt den Untergang ja bereits im Titel: Für Workingman´s Death hat er sich in die "Dritte Welt" aufgemacht, nach Indonesien, Nigeria, Pakistan, China und eben die Ukraine. Dort überall hat er Arbeitsbedingungen gefunden, wie wir sie als Schauermärchen aus den frühen Chroniken der Industrialisierung kennen: körperliche Schwerstarbeit, verrichtet inmitten von Dreck und giftigen Dämpfen, von unmenschlicher Hitze, Enge und Dunkelheit, unter Bedingungen also, die beim Erstweltler-Westler nicht nur Mitleid, sondern auch Ekel hervorrufen. Und dann, auch das stellt Glawogger in seiner Dokumentation heraus, wird diese Drecksarbeit noch mit Stolz verrichtet. Man könnte den Film im positiven Sinne irritierend nennen, man kann aber auch bemängeln, dass er sich vor einer Aussage über die Allgemeingültigkeit des Gezeigten drückt. Die jung sterbenden Schwefelschlepper in Indonesien und die auf eigene Rechnung nicht mehr gesicherte Gruben abklopfenden Minenarbeiter im Donbass - Glawogger hat sie sich eigens für diesen Film gesucht. Darauf, ob so nun die Zukunft oder die Vergangenheit oder zwangsläufig der elende Rand der Arbeitsgesellschaft aussieht, legt er sich nicht fest. In seinen atmosphärischen Bildern unterläuft ihm fast der Fehler des sozialistischen Realismus: Er hält sehr gerne am Heroischen der physischen Arbeit fest.

Auch Sasha Djurkovic hat für ihren Film eine Mine gesucht; gefunden hat sie sie in Wales. In Last Men Standing formt sie aus dem Gefundenen eine These: Einerseits sind da die "Last Men", schwarz im Gesicht, aber mit leuchtenden Augen. Die Grube gehört ihnen; die Erinnerungen an die Arbeitskämpfe unter Thatcher sind bitter, aber von viel Stolz durchdrungen: "We were lions led by donkeys", sagt einer. Mit Affen sind natürlich die Gewerkschaftsführer gemeint, die den großen Marsch nach London verhindert haben. Aber während die Väter noch einfahren, ein bisschen wie Statisten in einem selbst geführten Museum, was machen die Söhne? Sie treiben sich untätig auf der Straße herum und nehmen Drogen. Dass die Grube in Arbeiterbesitz ist, schafft für sie keine Arbeitsplätze, außerdem kommt die Bergarbeit für die heutige Generation nicht mehr wirklich in Frage. Wer will es ihnen verdenken? Sie sind unempfänglich geworden für den Arbeiter-Heroismus. In nur wenigen Szenen und Interviews macht Djurkovic klar, dass hier zwischen den Generationen ein kulturell-geistiger Wechsel stattgefunden hat, der mit der Kritik am Großkapital nicht einzuholen ist.

Sie ist ja auch nicht erst vorgestern passiert, die Krise des europäischen Bergbaus. Im finnischen Vuolijoki, so erfährt man in North Star, einem der Preisträgerfilme aus Leipzig, hat man dafür gesorgt, dass nach der Schließung der Mine sich eine Waggonfabrik vor Ort ansiedelte. Die gehört mittlerweile zu einem Konzern mit Hauptsitz in Spanien und ist nun wiederum von der Schließung bedroht. Rund 50 Prozent der Menschen in der Region wären davon unmittelbar betroffen. Dementsprechend bedrückt sitzt der Gemeindevorsteher in seinem großen stillen Büro. North Star zeigt in verhaltenen Bildern den modernen Kampf um Arbeit, der kein Arbeiterkampf mehr ist. Gemeindevorsteher, Werksleiter und Betriebsrat ziehen hier von Sitzung zu Sitzung, stellen diversen Transport- und Arbeitsministern ihr Problem vor und versuchen darauf einzuwirken, dass die finnnische Eisenbahn neue Schlafwagen bestellt. Die Politiker stellen heraus, dass die Bahn mittlerweile privatisiert sei, aber man tue, was man kann. Es ist ein zähes Ringen, ganz ohne Pathos. Die Männer und wenigen Frauen in diesem Film sind sehr verschlossen, nie geben sie sich vor der Kamera unbeobachtet, aber gerade das verleiht dem Film seine ergreifende Würde. Am Ende wird das Waggonwerk für dieses Mal noch gerettet, doch es ist kein Triumph, weil der Fortbestand mit Teil-Entlassungen bezahlt wird. So uneitel wie seine Protagonisten ist der Film als solches, der seine Formensprache ganz in den Dienst der Sache stellt.

North Star lief in einem Programm zusammen mit dem Kurzdokfilm L´Avenir, der einen der Hauptpreise in Leipzig erhielt: Hier fährt eine Kamera durch eine entindustrialisierte Stadt irgendwo in Frankreich. Die Fahrten sind der Kunstgriff des Films, ohne Schnitt wird der Blick von der Straße ins Haus gelenkt, durch Flure hindurch in die Wohnzimmer hinein, wo die Bewohner sich auf der Couch versammelt haben und in die Kamera gucken, während die sich bereits wieder hinaus bewegt. Zum Strom der Bilder erklingen aus dem Off Statements der Bewohner. Die Menschen haben Unterschiedliches zu sagen, manche bewahren sich ihren Optimismus trotz alledem. Nach und nach werden die Wohnungen immer großzügiger und die Anzahl der Bewohner immer weniger und besser bekleidet, so dass man am Ende den Eindruck hat, bei allen Schichten der Kleinstadt zu Besuch gewesen zu sein. Ein schöner Einfall schön gemacht. Und doch entsteht hier nicht jene Spannung wie in North Star, bei dem man in den trockenen Verhandlungen regelrecht mitfiebert, zu offensichtlich ist bei L´Avenir ein Thema für die Machart eines Films in Dienst genommen.

Ähnliches gilt für einen weiteren Preisträgerfilm. In The Giant Buddhas hat sich der Schweizer Christian Frei der Geschichte und Gegenwart der von den Taliban zerstörten Statuen angenommen. Allzusehr merkt man dem Film jedoch an, dass er so gerne mehr sein will als eine Fernsehdokumentation. Aus dem Off werden Briefe verlesen im Stil von Chris Markers Sans Soleil, die es mit dessen essayistischer Dichte aber nicht aufnehmen können. Notdürftig rekonstruiert Frei die jüngsten Ereignisse, hält sich lange vor Ort auf und - suhlt sich im Bewusstsein, einen wichtigen Film zu machen. Mehr erfährt man eigentlich nicht.

Das Gegenteil könnte man von der deutschen Produktion Frozen Angels sagen, die bald bei uns ins Kino kommt. Der Film stellt ein hervorragendes Essay dar zum Stand der Fortpflanzungsmöglichkeiten in Kalifornien: Wo soviel Embryonen auf Eis liegen, dass man mit ihnen ganze Städte bevölkern könnte. Wo nette Damen mit flötender Stimme am Telefon unfruchtbare Eltern mit Leihmüttern und Eispenderinnen verkuppeln - "Sie haben Ihre Bewerbung gelesen und sind begeistert, sie wollen Sie unbedingt!". Wo allein stehende Frauen sich aus Samenbanken von Nobelpreisträgern bedienen können. Wo die Selektionsmöglichkeiten des genetic engineering zum Greifen nah scheinen, so dass sich bereits abzeichnet, was dabei herauskommt, wenn Eltern die Eigenschaften ihrer Kinder bestimmen: Die Welt wird blond und blauäugig werden. Inmitten der Materialfülle dieses Filmessays geht der Auftritt eines Hoffnungsträgers fast unter. Der aus einer Nobel-Samenspende entstandene Sohn mit IQ 180 ist heute ein sympathischer und kritisch denkender Ökofreak, der von sich sagt: Was ich bin, hat mehr mit meiner Erziehung als mit meinen Genen zu tun.

Auch in Potzlow, dem durch den brutalen Mord an einem Jugendlichen zu trauriger Berühmtheit gelangtem Ort in Brandenburg, treibt die Menschen die Frage um, ob nun die Gene oder die Erziehung ein Leben bestimmen. Die Dokumentaristin Tamara Milosevic widmet sich in ihrem Film Zur falschen Zeit am falschen Ort in erster Linie dem traumatisierten Freund des Ermordeten, der nur mühsam im Leben Fuß fasst. Zu Wort kommen seine Eltern, deren Freunde und der Bürgermeister. Sie alle drücken vor allem den Wunsch aus, dass "es weitergeht". Soll heißen: dass Dorf und der Junge über die grausame Tat hinwegkommen. Zur falschen Zeit am falschen Ort gerät an seinen stärksten Stellen zum Porträt eines Umgangstons, der den ausgesprochenen Inhalten Hohn spricht: Niemand will hier auf der Seite der Opfer stehen, niemand möchte sich mit den Schwachen identifizieren. In beiläufig eingefangenen Rangeleien zeigt die Filmemacherin, dass den Menschen mit dem Verlust der Arbeit vor allem das Gefühl für die eigene Stärke verloren geht. Die muss nun auf andere Weise erkämpft werden. Vom Heroismus der Minenarbeiter könnten sie nicht weiter weg sein.


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