Grußmeile Potsdamer Straße

50 JAHRE BERLINALE Kleine Phänomenologie der Berliner Filmfestspiele

Was ist die Berlinale? Sie ist kein Straßenfest, das hat das Landesamt für Arbeitsschutz letzte Woche ein für alle mal festgestellt und damit den Antrag der Potsdamer-Platz-Arkaden auf Sonderverkaufszeiten an diesem Wochenende abgelehnt. Denn, so hieß es in der Begründung, sie finde ja nicht im Freien statt. Das war zwar nicht immer so - als die Berlinale noch im Sommer durchgeführt wurde, gab es Freiluftkino in der Waldbühne - ist aber trotzdem im Wesentlichen richtig erfasst: Die Berlinale findet hauptsächlich drinnen statt, und bei dem Wetter, das üblicherweise im Februar in Berlin herrscht, ist man darüber eher froh. Aber das ist natürlich noch nicht alles.

Denn wenn man sie fotografiert, die Berlinale, dann kommen meist Bilder heraus, die eigentlich doch an Straßenfest erinnern. Über die ganzen Jahrzehnte hinweg sind auf diesen Fotos die sogenannten Stars zu sehen, wie sie von Menschen, dem enthusiasmierten Publikum, manchmal auch grob als Menge bezeichnet, umringt, umjubelt, bestaunt werden. Das ist die Standardsituation aller Filmfestivals: Ein Star kommt zur Premiere seines Films, fährt vor in einem schicken Auto, schreitet über den roten Teppich hinein ins Kinogebäude, es blitzen die Kameras und alles drängt sich, einen Blick zu erhaschen. Dieser kurze Moment - und er war in der Budapester Straße vor dem Zoo-Palast stets besonders kurz, da hier der Weg vom Bordstein zum Kino maximal auf etwa zwei Minuten ausgedehnt werden konnte - gilt als einer der Erfüllung. In diesem Moment sind die Filmfestspiele Filmfestspiele und eben nicht nur eine Form des privilegierten Kinobesuchs. Wer das nicht glauben mag, sollte mal wieder hingehen um mitzuerleben, wie etwa Meryl Streep schwebenden Schritts mit angemessener Verspätung an der kleinen Menschenmenge vorbeidefiliert, einfach wunderbar aussieht dabei, sich mit sanftem Lächeln nach allen Seiten für die Beifallsrufe bedankte und auf diese Weise alle glücklich machte, auch diejenigen, die keine Karte mehr für ihren Film bekommen haben.

Womit ein stets heikler Punkt angesprochen wäre: Die Berlinale und die Stars, die sie besuchen oder eben auch nicht besuchen. Dass es zu wenige seien, ist eine in allen Jahren immer wieder geäußerte Klage, die auf eigenartige Weise korrespondiert mit dem ebenfalls häufig wiederholten Vorwurf, die "Amerikaner", oder auch die "Majors" missbrauchten die Berlinale als Werbeveranstaltung für den Deutschlandstart ihrer Filme. Bei der wohlmeinenden Rückschau über die vergangenen Jahre will es so scheinen, als ob stets abwechselnd mehr auf den einen oder auf den anderen Vorwurf reagiert wird. So löst sich ein von den "Majors" dominierter Jahrgang mit vielen Stars ab mit einem, in dem das Programm von Independents bestimmt wird und mehr europäische Filme zur Geltung kommen. Das diesjährige Wettbewerbsprogramm der mittlerweile 50. Filmfestspiele scheint da geradezu einen goldenen Mittelweg eingeschlagen zu haben. Wenn jetzt noch außer Leonardo DiCaprio tatsächlich Robert de Niro - um nur einen der vielen Angekündigten zu nennen - kommt, dann kehrt am Ende womöglich noch Zufriedenheit ein.

Vielleicht aber auch nicht. Und der dritte Hauptvorwurf an die Berlinale erklingt: Dass sie nämlich zu viel Mittelweg sei und eben kein richtiges Profil habe im Gegensatz zu Cannes und Venedig, wo die eigentlichen Karrieren und die wahren künstlerischen Entdeckungen gemacht würden. Und in der Tat zeigt die Preisvergabe jedes Jahr aufs Neue, dass man hier besonders auf Ausgleich bedacht ist, jede "extreme" Entscheidung wird in der Regel von einer anders gelagerten austariert. Weshalb man sie tendenziell auch schnell wieder vergisst, die goldenen Bären. Überhaupt ist es trotz verschiedener Anstrengungen bislang nicht gelungen, die Preisverleihung zum wirklichen, abschließenden Höhepunkt der Filmfestspiele zu machen. Die wahren Ereignisse bleiben die Filme, vor allem in ihrer gigantischen Menge: heuer sind es mal wieder um die 300.

So ist letztlich vielleicht gerade der versuchte Mittelweg und das Bestreben, die verschiedensten Erwartungen zu erfüllen das eigentliche Profil der Berlinale. Auf besondere Weise diplomatisch zu sein, wie man es im komplizierten Kräftefeld des einstigen West-Berlin ja auch sein musste, könnte sich genauso als eine der besseren Traditionen dieses Festivals erweisen. Dass man zur Feier des 50. Jubiläums einen Film ausgesucht hat, der bei seiner Aufführung einen handfesten Skandal auslöste, lässt sich in dieser Hinsicht als Zeichen lesen, wo man die Grenzen zwischen künstlerischer Freiheit und politischen Rücksichtnahmen verortet: 1979 hatten die sozialistischen Länder mit Ausnahme Rumäniens Michael Ciminos The Deer Hunter ("die durch die Hölle gehen") aufgrund seiner Darstellung des Vietnamkriegs zum Anlass genommen, ihre Filme aus Protest zurückzuziehen. Im Jahr darauf wurden zum Ausgleich die DDR-Produktion Solo Sunny von Konrad Wolf, der polnische Darsteller Andrzej Seweryn und István Szabó ausgezeichnet.

Um den vielfältigen und manchmal eben auch zwiespältigen Erwartungen gerecht zu werden, hat die Berlinale über die Jahre eine eigene Architektur entwickelt, die zwar nicht einzigartig in der Welt ist, aber durch ihre Breite beeindruckt. Die Berlinale, das sind mittlerweile fünf Sektionen, und alle pflegen ihr eigenes Image und sind für den Kinogänger mit bestimmten Eigenheiten verbunden.

Für die Kinomanen gibt es die Retrospektive, jedes Jahr einem neuen Thema, einer anderen Person gewidmet. In diesem Jahr sind es "Manische Maschinen. Kontrollierte Körper". Flankiert von Hommagen, (diesmal: Jeanne Moreau und Robert de Niro) stellt die Retro sozusagen den sicheren Hafen dar, der sich immer ansteuern lässt, wenn die Enttäuschung über die aktuellen Produktionen zu groß geworden ist oder man sich von den neuesten Regieexperimenten erholen will. Es soll unter den passionierten Berlinalegängern auch viele geben, die ausschließlich die Retro besuchen, mit der achtbaren Haltung der Kulturpessimisten, für die früher einfach alles besser war.

Das Gegenstück dazu, wenn man so will, bildet das "Forum des jungen Films". Heute wie vor 30 Jahren der Avantgarde, dem Ungewöhnlichen, Experimentellen, dem Nicht-Mainstream verpflichtet und dementsprechend erhaben über jene Form von Kritik, die ein ums andere Mal der Wettbewerb über sich ergehen lassen muss. Es ist die geeignete Futterstelle für sämtliche Filmfreaks, die hier ihren Jahreshunger an allem, was nie in unsere Kinos kommt, stillen können. Legendär ist das Forum mit seinen Überlänge-Filmen. Und Überlänge kann sich hier durchaus auf mehrere Tage erstrecken, was zur Herausbildung einer eigenen Veteranenklasse führt: All jene, die damals 13 Stunden Rivette, verteilt auf drei Tage oder acht Stunden Sátántangó mit dreimal zehn Minuten Pause durchgehalten haben, sind gewissermaßen verbunden durch ein Stück dem Kino geopferte Lebenszeit. Wer das Forum besucht, geht denn auch eine Art - natürlich freiwillige - Verpflichtung ein, die da bedeutet, im Anschluss an die Vorstellung noch zur Diskussion mit den Filmemachern zu bleiben. Das ist auf irgendeine Weise immer interessant, wenn auch leider nicht immer so unterhaltsam, wie einst, als Aki Kourismäki und Ulrich Gregor im Gespräch ihr coming out als kongeniales Komikerpaar hatten.

Das "Panorama" stellt wiederum in mancherlei Hinsicht sowohl das Gegenstück zum Wettbewerb als auch zum Forum dar und schwankt dementsprechend in seiner Radikalität. Überschaubarer als dieses bietet es dem Interessierten - hier gibt man sich im allgemeinen weniger hitzig - die Möglichkeit, sich über Filme zu informieren, die es zu Recht oder Unrecht, aufgrund des Reglements (im Wettbewerb konkurrieren nur Filme, die noch auf keinen anderen Festivals gezeigt wurden) oder wegen anderer Eigenheiten nicht in den Wettbewerb geschafft haben. Eine Sammelgrube für echte Entdeckungen und manchmal auch kleine Enttäuschungen. Im Anschluss an die Filme wird applaudiert, weniger heftig als im Wettbewerb, und des öfteren dürfen auch Fragen gestellt werden, aber keinesfalls so ausgiebig wie im Forum. Dafür kann man neuerdings auf verteilten Zetteln über die Filme abstimmen und es wird ein Panoramapublikumspreis gekrönt. Und für die Nimmersatten und die absolute beginners gibt es außerdem noch das Kinderfilmfest ...

Die Fülle des Programms erschlägt und der Umgang mit Titeln, Zeiten und Orten fordert dem Berlinalegänger einiges logistisches Engagement ab, weshalb das lange Anstehen an den zentralen Vorverkaufsstellen auch seine positiven Seiten hat. Hier kann man die Aufschreibe- und Planungssysteme der Schlangennachbarn beobachten und eventuell etwas von ihnen lernen. Oder sich auch verführen lassen, Karten für einen Film zu kaufen, nur deshalb, weil jemand weiter vorne in der Schlange sie auch gekauft hat oder die beiden Menschen hinter einem sich so anregend darüber unterhalten haben.

Vieles muss in dieser Hinsicht in diesem Jahr neu gelernt werden, denn in ihrem 50. Jahr zieht die Berlinale um an den Potsdamer Platz. Vor Jahren versprach man sich von dieser Planung noch eine Aufwertung und Belebung des aus dem Boden gestampften Stadtteils. Inzwischen sind die Arkaden und ihre Umgebung so überraschend gut eingeführt, dass man die Festspiele wohl gar nicht mehr gebraucht hätte. Für die Berlinale soll sich mit der zehntägigen Umwidmung des Stella-Musicaltheaters zum "Berlinale-Palast" dagegen der lang gehegte Traum vom eigenen Festspielhaus erfüllen. Noch schaut man dem Ganzen mit gemischten Gefühlen entgegen. Zwar freut man sich einerseits auf die mit neuester Technik und bequemen Zuschauersesseln ausgestattete Multiplexkinos, andererseits kann man nicht anders als den klassischen Häusern mit je eigener gepflegter Atmosphäre wie etwa dem Astor oder dem Filmpalast nachzutrauern. An deren Stelle sind nun durchnumerierte CineStars und Cinemaxxe getreten, die erstmal auseinander gehalten werden müssen. Alles liegt nun sehr nah beieinander in fast kleinstädtisch zu nennender Fußnähe. Mit welchen Folgen, ist noch nicht abzusehen. Wird man sich ständig begegnen und wiederbegegnen auf dem Marlene-Dietrich-Platz? Wird die alte Potsdamer Straße zur Grußmeile? Wird die Berlinale am Ende doch noch zum Straßenfest?

Womit wir wieder beim Thema wären: Den Presseberichten zum abschlägig beschiedenen Sonderverkauf in den Arkaden am Wochenende war zu entnehmen, dass solche Extragenehmigungen eben bei Straßenfesten einmal im Jahr oder bei herausragenden Ereignissen, wie etwa "wenn die drei Tenöre kommen" erteilt werden. Dass die Berlinale weniger herausragend sein soll als die drei Tenöre oder auch eine Zahnmediziner-Tagung, kommt natürlich auf den Standpunkt an und berührt trotzdem einen heiklen Punkt: Ihre Weltgeltung sozusagen, die sie im zähen Kampf mit den Filmfestspielen von Cannes und Venedig jedes Jahr neu zu verteidigen hat. Zu Perestrojka-Zeiten und einige Jahre danach wollte es so scheinen, als ob ihr die glanzvolle Rolle einer Brücke oder Drehscheibe zwischen Ost und West zufiele. Zwar wird dies seither quasi als Selbstverpflichtung ständig wiederholt, findet aber nie so recht seine Erfüllung. Doch daran ist weniger die Programmauswahl schuld, als der wirtschaftliche Zusammenbruch fast aller osteuropäischer Kinematographien. Wenn in den Studios von Mosfilm und Barrandov Tycoons einziehen würden, die gewillt wären, Hollywood die Stirn zu bieten, ja dann könnte die Berlinale im Glanz dieses Spannungsfelds ganz neu erstrahlen. Aber das bleibt wohl ein Traum. Dafür rühmt man sich hier, 1988 mit dem Roten Kornfeld die Volksrepublik China als Filmland entdeckt zu haben und gedenkt dessen im Jubiläumsjahr auf besondere Weise mit Gong Li, der damaligen Hauptdarstellerin, als Jurypräsidentin und dem neuen Film von Zang Yhimou.

Spätestens nach dem fünften Film oder dem dritten Tag erübrigt sich für den Berlinalegänger jede Frage nach Bedeutung oder Weltgeltung dieser Veranstaltung sowieso. Hinter den vielfältigen Kinowelten, in jedem Film eine neue, andere, entrückt die Realität. Man betrachtet in den Zeitlöchern zwischen den Filmen die Passanten und kann sich einfach nicht mehr daran erinnern, welchen Tätigkeiten diejenigen nachgehen, die nicht den ganzen Tag im Kino verbringen.

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