In den achtziger Jahren erfreute sich der Kabarettist Matthias Richling mit seiner Figur des fernsehenden Schwaben größter Beliebtheit. Seine Monologe über das Gesehene pflegte dieser mit folgender Bemerkung zu eröffnen (Wegen des überregionalen Charakters unserer Zeitung verzichten wir auf die phonetische Umschrift und geben ins Hochdeutsche übersetzt wieder): "Dass Fernsehen blöd macht, das hätte ich gemerkt, schließlich sitze ich den ganzen Tag davor." Selten ist das medienkritische Wahrnehmungsdilemma so präzise auf seinen wundesten Punkt gebracht worden.
Denn Intelligenz und Allgemeinbildung, heute wie damals, werden grundsätzlich jenseits des TV-Geräts verortet, welches in dieser Hinsicht immer noch den Antipoden zum ominösen "guten Buch" bildet. Intelligent Fernsehen, das heißt stets: Maßhalten beim fernsehen - je weniger desto besser, und wenn überhaupt, dann "Qualität". Wer zugibt, mehr als nur Nachrichten und ab und zu den Tatort oder besser noch Polizeiruf 110 zu gucken, dem wird nicht zugetraut, dass er noch weiß, wie der Komponist der Feuerwerksmusik heißt oder gar, welche Erzählungen Kafka schrieb. Aus dieser Unvereinbarkeit von Allgemeinbildung und Fernsehen ziehen die Quiz-Shows seit jeher ihre Spannung. Oder anders ausgedrückt: Wissen wird im Fernsehen so gerne bestaunt, weil es nur von "draußen" kommen kann.
Früher, bevor in den achtziger Jahren das Genre Quiz-Show weitgehend vom Bildschirm verschwand, wurden in Sendungen wie dem Großen Preis oder Kennen Sie Kino selbsternannte Experten befragt, Menschen, die ein Spezialgebiet hatten, wie Briefmarken, Hitchcock oder Die Beatles. Das abfragbare lexikalische Wissen über ein Sachgebiet kam einer olympischen Disziplin gleich, das Ganze trug betont sportlichen Charakter. Und wie immer beim Sport waren auch die Anklänge an den Zirkus nicht weit, denn gleichzeitig hatte das ausführliche Wissen über, sagen wir, die Königshäuser Europas seit dem 11. Jahrhundert auch etwas Freakiges an sich. Die Kandidaten, das waren Artisten der Konzentration und Gedächtnisleistung, ihre hohe Spezialisierung faszinierte ebenso wie sie abschreckte; Wissen oder Nichtwissen - ein Gang übers Hochseil, es fand die Überprüfung des Menschen in Extremsituation am öffentlich zur Schau gestellten eigenen Leib, beziehungsweise Kopf statt.
Von solchen Zirkusnummern sind die nun plötzlich wieder beliebt gewordenen Quiz-Shows weit entfernt - auch wenn die Licht- und Tondramaturgie noch ganz der Schaubuden- und Varietétradition entlehnt ist. Was an Sendungen wie Wer wird Millionär sichtbar wird, ist dass die allgemeine Vorstellung davon, was Wissen ist, sich grundsätzlich verändert hat. Zwar wird stärker denn je der Bildungsbürger klassischer Prägung gegen den vom vielen Fernsehen Verbildeten ausgespielt, aber es ist ein längst verlorener Kampf, in den man ihn da schickt: Jemand, der nicht weiß, dass Settbo ein Pokémon ist oder MI2 die Abkürzung für Mission Impossible 2, steht weitaus dümmer da als jemand, der keine Ahnung hat, dass Stalin nicht Metzger, auch nicht Autoverkäufer, sondern Priester werden wollte. Diese Konstellation ermöglicht dem Moderator Günther Jauch das Unmögliche: Auf RTL, dem Erfinder des Trashfernsehens, zu wirken wie der letzte Mohikaner im Kampf um die Allgemeinbildung. Rührend, wie er die "klassischen" Wissensfragen mit eifrigen, rügenden oder lobenden Kommentaren versieht, sich dabei gerne in aller Bescheidenheit den Anschein gibt, das habe er gewusst, während er bei den "Unwissens"-Fragen sein Nichtengagement betont.
Doch es ist weniger der Moderator, der Wer wird Millionär so erfolgreich macht, als vielmehr die präzise Abstimmung des Show-Konzepts auf die neuen Paradigmen des Wissens. Das beginnt bei den sogenannten einfachen Fragen, für die man diverse Sprachbilder und Sprichworte wissen muss (Staunt man Pflastersteine oder Bauklötze?). Diese dienen der Ermutigung der Kandidaten und sind zugleich ein wirkungsvolles Ausschlussverfahren: Wer hier nicht weiterkommt, muss nämlich "fremd" sein in der westdeutschen Leitkultur, so selbstverständlich ist das Wissen, das hier abgefragt wird. Im Internet stellt WwM unter anderem auch Fragen aus Indien zur Verfügung - für alle, die sich ein Bild machen wollen von der kulturellen Bedingtheit des Wissens und der Ausgrenzungsmacht einfacher Fragen.
Aber was heißt schon einfach: Das Geheimnis jener Fragen, die nach der berüchtigten 8.000-DM-Grenze kommen, besteht nun gerade darin, dass sie beantwortbar sind: Nicht von jedem, aber doch von jemandem, den man kennen kann. Wissen ist im Internetzeitalter keine Frage des Besitzens mehr, sondern eine der Vernetzung. Darin liegt der fundamentale Unterschied zu früher; das lexikalische Wissen hat ausgedient, und dessen Hierarchien ("Zu wissen, wo was steht") gleich mit. Die Volltextsuchmaschinen sind so demokratisch, wie eben früher nur Freunde waren, denen man die "Weißt du noch"-Frage stellen konnte. So ist Wissen heute vor allem eine Frage der Assoziation und Begegnung, ob virtuell oder real. Der Bildungskanon toter großer Männer scheint durch diversifiziertes, aber unstrukturiertes Erfahrungswissen ersetzt.
Für den Bildungsbürger von früher waren Multiple-Choice-Fragen der Beginn des Untergangs des Abendlandes. Die Werke Shakespeares musste man aufzählen können - und nicht unter Vieren das herauspicken, das nicht dazugehört. So was galt früher nicht als Wissen, sondern allenfalls als Halbwissen. Heute ist selbiges zum Assoziationsvermögen aufgewertet und weit vielseitiger einsetzbar als jeder Bildungsschatz, dessen Silberwährung nicht mehr im Umlauf ist.
Und dennoch steckt darin ein unhinterfragter Positivismus, der Bildung ganz ins Abseits von passivem Wissen rückt und kaum mehr jenseits von vier Auswahlantworten denken lässt. Dass etwas (so) nicht zu beantworten wäre, ist als Antwort ungültig. So wird man dumm ohne es zu merken.
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