Hauptsache Spekulation

Dokuserie Barbara Schweizerhof über den Etikettenschwindel der Netflix-Serie „Rohwedder“. Spoiler-Anteil: 75%
Ausgabe 42/2020

Das Genre True Crime lässt sich vielleicht am besten mit einem Beispiel aus Asterix bei den Schweizern erklären. Dort empfiehlt der Kellner der Wagenraststätte „Ess-O-Guck“ den Galliern: „Wenn ihr Glück habt, könnt ihr während des Essens sogar ein Unglück auf der Wagenbahn miterleben!“ Denn anders als beim herkömmlichen Krimi, dem Lieblingskind des deutschen Fernsehzuschauers, läuft die True-Crime-Serie nicht auf die Lösung des Falls durch vertraute Figuren hinaus, sondern aufs unmittelbare Miterleben von Spurensuche und Verdächtigenermittlung. Die berühmtesten Beispiele des Genres haben den Fall selbst mit beeinflusst, etwa als in der Miniserie The Jinx der vermeintliche Mörder vor laufender Kamera ein Geständnis ablegte.

Einen solchen Coup vom Fall des Attentats auf Detlev Karsten Rohwedder zu erwarten, wäre aber ein bisschen viel verlangt. Nicht nur, weil die Ermordung des damaligen Treuhand-Chefs am 1. April 1991 nie völlig aufgeklärt werden konnte. Auch dass es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um eine politisch motivierte Tat handelte, läuft von Anfang an gegen den Strich des True-Crime-Formats. Politische Beweggründe lassen sich nun mal schwer durch Spurensuche oder Verhöre erhärten. Da helfen auch Experten wie Ex-RAF-Mitglied Silke Maier-Witt oder Theo Waigel, Ex-Finanzminister, nicht, um nur zwei von vielen zu nennen, die in der Gebrüder-Beetz-Produktion Rohwedder – Einigkeit und Mord und Freiheit zur Sprache kommen.

Um es gleich zu spoilern: Zum eigentlichen Fall Rohwedder hat die Serie nichts Neues zu berichten. Das können auch die nutzlosen Reenactments der Tatnacht nicht bemänteln, die drei verschiedene Versionen darstellen, aber wenig mehr anbieten, als in der „RAF-Variante“ eine Frau als Mittäterin zu vermuten. Die Pseudodramatik soll offenbar die Einfallslosigkeit verdrängen, mit der die zwei Gegenhypothesen zur „RAF-Version“ wieder aufgewärmt werden, die sich schon in den 90er Jahren trotz Dokufeature-Behandlung durch den WDR als unhaltbar erwiesen. Dass Stasi-Leute sich für den DDR-Ausverkauf rächen wollten, bleibt heute noch ein reines Gedankenkonstrukt, für das sich keine Fakten sammeln lassen. Und reines Geraune bleibt auch die Theorie, dass „die BRD“ den Mord „inszeniert“ habe, um ... Ja, was eigentlich? Solche Leerstellen ziehen Menschen wie den Kriminalreporter Günther Classen an. Er, der hier packend von jener Nacht erzählt, als er durch abgesperrte, von Polizei wimmelnde Straßen zum Tatort vorzudringen versuchte, glaubt heute noch fest daran, dass das Bundeskriminalamt mehr weiß. Damals habe es geheißen: Wir ermitteln in alle Richtungen. So etwas sage doch nur, wer etwas zu verbergen habe – das womöglich die Grundfesten der Republik erschüttern könnte!

Nein, von „Ockhams Rasiermesser“ – die einfachste Erklärung ist die wahrscheinlichste – wollen die Macher lieber nie gehört haben, RAF-Bekennerschreiben, DNS-Spur und Tatwaffenzuordnung zum Trotz. Im Gegenteil, über vier Folgen hinweg machen sie die „Sache“ immer nur komplizierter. Mit willkürlichen Zeitsprüngen – „18 Monate bis zum Mord“ –, willkürlichen Zeitzeugen – Thilo Sarrazin! – und oft willkürlichem Archivmaterial: Im Intro hört man unter anderem Ulbrichts „Niemand hat die Absicht ...“.

Mehr und mehr stellt sich heraus, dass es ein anderes „Verbrechen“ ist, das sich fast wie gegen den Willen der Doku-Macher in den Vordergrund drängt – und damit das eigentlich Fesselnde dieser Dokuserie ausmacht: die Tätigkeit der Treuhand-Anstalt als solche. Dazu gibt es in den vier Folgen faszinierende Archivaufnahmen und Zitate von Zeitzeugen. Hier tut sich besonders Thilo Sarrazin hervor, der ungerührt summiert: „Der Wert der DDR war null.“ Er und Waigel überbieten sich im Eigenlob dafür, wie toll sie damals gehandelt haben. Geschickte Montagen von bestürzten Arbeitern, die ob „Kaputtsanierung“ und Privatisierung ihre Zukunft gefährdet sahen, bringen das Gefühl der Niederlage ins Bewusstsein, das es im Siegesgeheul um die deutsche Einheit doch auch gab. Und es sind Aussagen wie die von Silke Maier-Witt: „In der DDR gab es zwei Joghurt-Sorten, eine mit und eine ohne Erdbeeren, das reichte auch!“, die heute durchaus zwiespältig nachhallen.

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Geschrieben von

Barbara Schweizerhof

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Film“ (Freie Mitarbeiterin)

Barbara Schweizerhof studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und arbeite nach dem Studium als freie Autorin zum Thema Film und Osteuropa. Von 2000-2007 war sie Kulturredakteurin des Freitag, wechselte im Anschluss zur Monatszeitschrift epd Film und verantwortet seit 2018 erneut die Film- und Streamingseiten im Freitag.

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