Heimat - das klingt eigentlich nach Mitte und Geborgenheit. Ein Ort, an dem man "bei sich" ist. Oder besser gesagt: wäre. Denn noch eigentlicher bezeichnet das Wort eine Sehnsucht, weil es diese Mitte nirgendwo gibt, es sei denn als Verlorenes. Heimat, wie schon der schmerzvolle Unterton belegt, ist "nur" ein imaginärer Ort, eine Seelenlücke, die inzwischen fast reflexhaft mit dem Blochzitat beschrieben wird: "Was jedem in die Kindheit scheint und wo noch niemand war." Der Ort der Kindheit liegt für die heutige Lebenserfahrung an der Peripherie; im übertragenen und meist auch im direkten Sinn eine Provinz, von der aus man sich erst ins Zentrum des Lebens vorarbeiten muss. Was auch bedeutet: Man will weg von dort.
Die drei Momente: das Periphere, Provinzielle der Heimat, das Unerfüllte daran, das als lebenslange Sehnsucht bindet, und die stete Fluchtbewegung weg davon, das alles hat Edgar Reitz in seinen beiden Fernsehserien Heimat und Die zweite Heimat mit gebührender Melancholie entfaltet. Das Besondere der Reitzschen Geschichtsschreibung bestand darin, dass seine Figuren nie zur reinen Illustration deutscher Historie erfunden schienen. Die wichtigen Ereignisse des letzten Jahrhunderts kamen vor, aber sie wurden reflektiert und gebrochen durch die Perspektive eines Arsenals an Charakteren, die durchweg so bodenständig angelegt waren, dass sie eine Vielzahl von Heimaten verkörperten. Deshalb waren die Heimat-Serien nie so provinziell wie andere "Mundart"-Sendungen. Gemeinsam war den Figuren eine exzentrische Position: Maria in der ersten Heimat, und Hermann in der zweiten - sie waren immer wieder übergangene, zu spät kommende, nie ganz am Ziel, im Zentrum ankommende Charaktere. Mit ihrem Außenseiterblick konnte man sich wunderbar identifizieren. Wie im richtigen Leben: Haben nicht die meisten von uns die wichtigen historischen Ereignisse, zum Beispiel den 9. November 1989, verschlafen, verpasst, nicht richtig mitbekommen?
Heimat 3 aber beginnt genau in jener "Wahnsinns"-Novembernacht. Und damit nicht genug: Vor der fallenden Mauer treffen sich Hermann und Clarissa wieder und finden mit zwei Sätzen zueinander. Kann man sich als Zuschauer, der einst durch 13 Teile Zweite Heimat um das nie gelingende Zusammenkommen dieser beiden gebangt hat, anders als verraten fühlen über die plötzliche Leichtigkeit? Und das schöne Konzept der exzentrischen Geschichtsschreibung, der Außenseiterblick auf die Ereignisse der großen Historie, sollte Reitz davon ausgerechnet für die Darstellung der jüngsten Vergangenheit Abschied genommen haben? Erleichtert registriert man, dass Hermann und Clarissa sich noch im gleichen November aufmachen, um in den Hunsrück zu ziehen. Dort verlangsamen und verkomplizieren sich die Biographien wieder - und mit der endlich gelebten großen Liebe erweist es sich als angemessen schwierig. Aber ganz erholt man sich als Zuschauer von dem Schock, in die Mitte des Geschehens versetzt worden zu sein, nicht mehr.
Einerseits scheint in Heimat 3 alles wie gehabt. Über das letzte Jahrzehnt hinweg konzentriert sich jeder Teil auf einen besonderen Zeitraum und wechselnde Figurenkonstellationen. Einige neue kommen hinzu, mit vielen alten gibt es ein Wiedersehen. Auch den irritierenden Wechsel zwischen Schwarz-Weiß- und Farb-Aufnahmen behält Reitz bei; und sympathischer Weise entzieht sich der noch immer jeder interpretierbaren Systematik, sondern passt sich reiner Intuition folgend dem Mäandern menschlichen Erinnerns an. Andererseits aber wirkt alles wie verschoben: Währungsunion, Fußball-WM, Aids, Börsenknall und das Millennium - wo vorher die Ereignisse Echo und Resonanz in den Figuren fanden, sind sie nun oft bloße Kulisse, willkürlich eingestreute "Das waren die Neunziger"-Stichworte oder, schlimmer noch, plot points, denen die Figuren folgen müssen, ob sie wollen oder nicht.
Der Fall der Mauer hat uns alle in den Stand von Zeitzeugen erhoben. Und doch scheint nichts so schwer, als das Ereignis "realistisch" darzustellen; zu sehr drängt sich die "Symbolkraft" in den Vordergrund. Das gilt für die gesamte Heimat 3. Die Dinge und Orte stehen nicht mehr für gelebte Erfahrungen wie oben beschriebenes Heimatphänomen, sie werden von Reitz stets mit einem Mehr an Bedeutung aufgeladen: Das Haus, das Hermann und Clarissa kaufen, ist nicht irgendein Haus im Hunsrück, sondern das, in dem angeblich die Günderrode wohnte, und gleich zwei Figuren finden ihren Tod am Loreley-Felsen.
So verlieren die Charaktere das, was ihren Reiz ausmachte: die Bodenhaftung (die viel solider und verwurzelter war als das, was man Bodenständigkeit nennt). Der Darstellerin der Maria hat man das Jahrzehnte dauernde Altern geglaubt, bei Hermann und Clarissa ist das sehr viel schwieriger. Was durchaus symptomatisch scheint für eine Generation, die sich mit dem Altern schwer tut und anders als noch die Vorkriegs-Generation im Grunde nie alt werden will. Aber die Schauspieler stellen den Konflikt weniger dar, als dass sie ihn unwillkürlich verkörpern. Dazu zeigt Reitz seine Musiker in jener Saturiertheit, die man den Alt-68ern zwar gerne vorhält, die aber bereits Karikatur ist. Wo die Zweite Heimat nie das Prekäre ihrer Künstler-Existenzen zwischen Ambitionen und finanziellen Verhältnissen aus dem Blick verlor, führt Heimat 3 das frei schaffende Musikantentum als letzte Oase der Sorglosigkeit vor Augen. Premieren in München, Berlin und Paris, zwischendurch ein paar Schaffenskrisen, was für ein Leben!
Ach ja, zu Beginn hat Clarissa einen Auftritt in Leipzig. Denn schließlich muss "der Osten" irgendwie Eingang finden in eine Serie, die bislang strikt bundesrepublikanisch-westlich war. Obwohl in der ersten Heimat wahrscheinlich mehr Sächsisch zu hören war als im gesamten Westfernsehen in den achtziger Jahren. Damals kamen "Arbeiter aus Sachsen und Thüringen zum Autobahnbau in den Hunsrück" und es wurden Quarkkeulchen bereitet. Ansonsten spielte die spätere DDR keine Rolle. Worin sich weniger Ignoranz zeigte, als vielmehr die Tiefe der Teilung. Im Westen der BRD hatte man die Mauer schließlich generös akzeptiert.
Für die Ost-Integration hat Reitz sich Thomas Brussig als Drehbuchschreiber dazugeholt. Auf dessen Konto dürfte das flotte Mundwerk der auftretenden Ossis gehen, das zum Vergnüglichsten an der Serie gehört. Mit ihren schlagfertigen Reden erhält Heimat 3 auf einmal einen humoristischen Drive, der sich in die getragene Erzählweise nie einfügen will und leider viel zu bald wieder endet.
Schnell werden die eingeführten Ostbiographien in ihre Heimat und damit aus dem Blickfeld der Serie geschickt. Fast sieht das nach einem Akt der Eifersucht aus, denn in den hinzu gekommenen Figuren und Lebensläufen steckt ein Potenzial, das das der "Wessis" bald zu überstrahlen droht. Wie aus dem Bühnentechniker ein feister Bauunternehmer mit echter Midlifecrisis wird, während der andere trotz ständig neuer Einfälle immer nur alles verliert, das hätte man gerne im Zentrum der Erzählung gesehen. Ganz zu schweigen von der wunderbaren Figur des letzten Dresdner Hippies, der sich selbst treu bleiben darf. Aber sie alle umkränzen nur das Nabelschau betreibende West-Paar am Rhein.
Zwischendurch gerät Heimat 3 zu etwas, was die Serie nie sein wollte: zur Familienserie. Reitz führt die legendäre Optiker-Firma, gegründet von Marias Sohn Anton nach einem langen Fußmarsch aus russischer Gefangenschaft, in den Ruin. Genauer gesagt, er versieht den Patriarchen Anton mit unwürdigen Erben, die den wirtschaftlichen Niedergang herbeiführen. Der menschliche folgt auf dem Fuß. In manchen Momenten wird eine köstliche Satire daraus, meist aber kann man sich nur wundern über den respektvollen Umgang mit jener bundesrepublikanischen Gründergeneration, die einst die Hauptzielscheibe der Kritik der 68er war. Den Verdrängungsmeistern und Nachkriegsgewinnlern mit ihren "Wertarbeit"-bewussten Mittelstandsbetrieben wird hier überraschend sentimental Referenz erwiesen. Für die Liebhaber der ersten Serien mag der dritte Teil bewirken, was in der Regel für die verlassenen Orte der Kindheit gilt: Man verklärt sie, will aber nicht wirklich dahin zurück.
Heimat 3: Teil 2 heute, Teil 3 am 20.12, Teil 4 am 22.12, Teil 5 am 27.12, Teil 6 am 29.12., jeweils 20.15 Uhr, ARD.
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