Helles Strahlen vor düsterem Hintergrund

Filmfestival Cannes 2007 Die allgemeine Begeisterung lässt über so manche bedrohliche Entwicklung hinwegsehen

Es war fast zu schön, um wahr zu sein. Zu guter Letzt bekam auch noch der richtige Film die goldene Palme. Alles in allem wurde das 60. Filmfestival von Cannes dermaßen mit Lob überhäuft, dass man sich geradezu zu düsteren Gedanken provoziert fühlte: Was, wenn 2007 in die Geschichte eingehen wird als das letzte Mal, an dem alles stimmte, die perfekte Mischung aus Altmeistern und Newcomern im Wettbewerb, aus alten und jungen Stars auf dem roten Teppich und dem perfekten Wetter dazu?

Vielleicht hätte es nur regnen müssen - wie sonst oft üblich zu der Jahreszeit -, um die Angst sichtbar werden zu lassen, die eigentlich in der Filmbranche derzeit umgeht. Der Tod des Kinos, seit Jahrzehnten ein ständiges Thema auch beim "wichtigsten Filmfestival der Welt", scheint nämlich heute so nah wie nie. Und das in ganz wörtlichem Sinn: die Sehgewohnheiten des Filmpublikums drohen sich dramatisch zu verändern dank Internet und DVD. Zwar wird es weiter Filme geben, aber immer weniger werden diese in herkömmlichen Kinosälen betrachtet werden. Und welche Auswirkungen das wiederum haben wird für Stars und Produzenten, für Kritiker und Festivalmacher, ist noch nicht abzusehen. Von heute aus betrachtet weiß man eigentlich nur, dass es nicht so bleiben wird, wie es ist.

So war es vielleicht gerade der düstere Hintergrund ungewisser Zukunftsaussichten, der das Festival dieses Jahr noch einmal so besonders hat erstrahlen lassen. Der Erfolg von Cannes besteht im perfekten Zusammenspiel von Event-Betrieb und cinephilem Wettbewerb. Einerseits gibt es die mit rotem Teppich ausgeschlagenen Treppen vor dem Festivalpalast, auf denen sich Tag für Tag Stars wie Alain Delon und Sharon Stone, George Clooney und Angelina Jolie fotografieren lassen. Andererseits gibt es die mit Filmjournalisten aus aller Welt bis auf den letzten Sitz gefüllten Kinosäle, in denen eine erlesene Auswahl neuester internationaler Filmkunst gezeigt wird. Auf den Treppen vor dem Festival-Palais wird das äußere Bild des Festivals erzeugt: berühmte Menschen in Abendkleidern lassen sich von Heerscharen von Fotografen umlagern und von Fans hinter der Absperrung zujubeln. Im Kinosaal kommen diese Stars oft gar nicht vor - weder Alain Delon noch Sharon Stone waren wegen eigener Filme da - und es darf bezweifelt werden, dass viele von ihnen sich tatsächlich den rumänischen Film ansehen würden, von dem alle Kritiker sprechen. Trotzdem toben innen die cineastischen Leidenschaften: Man rangelt um die Plätze und setzt den Buhrufern ein demonstratives "Bravo!" entgegen. Diese Aufteilung in populäre Aufmachung und cineastischem Kern bildet den Motor des Festivals. Früher ging man davon aus, dass die Entdeckungen von heute die Stars des roten Teppichs von morgen sein werden. Diese Selbstverständlichkeit befindet sich jedoch in Auflösung.

Das Kino in seiner klassischen Form von roten Samtsesseln und großer Leinwand droht zu einer nostalgischen Erinnerung zu werden. Besonders deutlich zeigte dies ironischerweise die Kurzfilmrolle Chacun son Cinéma (Jedem seine Art Kino), die sich das Festival quasi zur Feier der 60. Ausgabe selbst schenkte. Festivalpräsident Gilles Jacob hatte 35 Regisseure gewinnen können, darunter Lars von Trier, Roman Polanski, Wim Wenders und immerhin eine Frau: Jane Campion. Sie alle lieferten drei Minuten ab, die verdächtig oft von leeren Kinos handelten. In David Cronenbergs Stück wird gar der Suizid des "letzten Juden der Welt im letzten Kino der Welt" live im Fernsehen übertragen. Die im Plauderton das Geschehen kommentierenden Nachrichtensprecher müssen sich gegenseitig erklären, was das denn sei, ein "Kino", und bekennen freimütig, nie in einem drin gewesen zu sein. Solch finsteren Prognosen setzten die Coen-Brüder eine kleine satirische Utopie entgegen: In ihren drei Minuten geht ein Cowboy ins Programmkino und muss zwischen Jean Renoirs Die Spielregel und Nuri Bilge Ceylans Climates wählen. Nach fachkundiger Beratung mit dem Filmfreak an der Kasse - "Gibt es Nacktszenen?" "Im Anschnitt" - entscheidet er sich für den türkischen Film. Der größte Witz besteht natürlich darin, dass die Coen-Brüder zeigen, wie der Cowboy später tief bewegt das Kino verlässt: "Da war viel Wahrheit drin, ein Superfilm!"

Das Publikum in Cannes wusste, warum an dieser Stelle so besonders laut gelacht wurde. Schließlich war Climates im vergangenen Jahr hier im Wettbewerb gezeigt worden, wo er geteilte Reaktionen hervorgerufen hat. So viel sei verraten: Es ist nicht wirklich ein Film für Cowboys. In Deutschland wird Climates wohl nie ins Kino kommen; schon Nuri Bilge Ceylans Erstling, Uzak, in Cannes 2002 mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet, hatte hierzulande gerade mal 6.500 Zuschauer. Nur wirklichkeitsfremde Optimisten glauben, dass der rumänische Film 4 Monate, 3 Wochen, 2 Tage, der glorreiche Gewinner der goldenen Palme in diesem Jahr, mehr bekommen könnte. Und das, obwohl man sich in Cannes unter Kritikern selten über die durchschlagende Stärke eines Films so einig war.

Aber wer denkt schon an solch besorgniserregende Entwicklungen in der Kinolandschaft zuhause, wenn in Cannes im Wettbewerb ein David über gleich mehrere Goliaths siegt, soll heißen: ein absoluter Newcomer aus einem Niemandsland der Filmwirtschaft wie Rumänien (!) eine Riege von Altmeistern und vormaligen Palmen-Gewinnern aussticht?

Dabei sah die Konkurrenz nur am Anfang besonders stark aus. David Fincher zeigte in Zodiac, dass er mit dem Thema Serienkiller auch ganz anders umgehen kann. Sein Film verfolgt die Suche nach dem legendären Zodiac-Killer, einem wahren Fall im San Francisco der späten sechziger Jahre, über mehrere Jahrzehnte hinweg und nimmt dabei en passant die Entwicklung von Stadt und Gesellschaft mit in den Blick. Obwohl er ganz im Genre des Kriminalfilms bleibt, wird der Film zum Essay über die oft frustrierende Suche nach der Wahrheit und der Schwierigkeit sich damit abzufinden. Auch die Coen-Brüder zeigten sich mit No Country for Old Men in Hochform: Es geht um die Jagd nach einem Koffer mit zwei Millionen Dollar. Wie üblich verfahren die Brüder mit ihren Figuren alles andere als zimperlich; der starke Kontrast zwischen Xavier Bardems pathologischer Killerfigur und der Wärme und Originalität amerikanischer Provinzbewohner provoziert beim Zuschauer in unvorhersehbarer Weise mal Gelächter und mal Entsetzen. Da kann einem schon unheimlich werden. Es ist nicht wirklich gerecht, dass die Coens dieses Jahr ohne Auszeichnung blieben.

Ansonsten bereiteten gerade die Veteranen eine Enttäuschung nach der anderen: Wong Kar-weis Blueberry Nights war nach dem ersten Abend schon vergessen; Emir Kusturicas Promise me this war wohlweislich auf den letzten Tag programmiert, wenn die Mehrheit schon abreist. Mit Death Proof wollte Quentin Tarantino seinen Status als King of Cool erneuern, den er in Cannes vor über zehn Jahren mit Pulp Fiction begründet hatte. Es kam ganz anders: Was gestern noch hipp erschien, die augenzwinkernde Begeisterung für die B-Movies der frühen Siebziger, sieht heute auf einmal nur noch altbacken aus. Den meisten Zuschauern passierte in Death Proof etwas, was sie in einem Tarantino-Film am wenigsten erwartet hätten: Sie langweilten sich.

Bei Bela Tarr und Aleksandr Sokurov dagegen weiß der Zuschauer, dass er ein gewisses Maß an Langmut zu erbringen hat. Trotzdem erwiesen sich The Man from London und Aleksandra als leerlaufende Hochämter auf den jeweiligen Stil des Manns im Regiestuhl. Wie überhaupt von Ulrich Seidl (Import-Export) bis zu Andrej Zvjaginzev (Banishment), von Catherine Breillat (Une vieille maitresse) bis zu Gus van Sant (Paranoid Park) und Kim Ki-duk (Soom) die Devise vorzuherrschen schien, dass hier jeder vor allem sein Ding durchziehen solle. Ein jeder der genannten Filme fand auf dem Festival Gegner und Anhänger, als Gesamtbild aber geben sie ein erschreckendes Porträt der Selbstbezüglichkeit im Arthouse-Kino der Gegenwart. Allerorten scheint man vor allem damit beschäftigt, seine eigene Handschrift zu bewahren und sich beim Filmen die eigene Identität als Regisseur zu bestätigen. Das genuine Interesse an den dargestellten Figuren und ihren Geschichten wird oft dahinter zurückgestellt.

So etwa auch in Stellet Licht, dem heiß erwarteten dritten Film des Mexikaners Carlos Reygadas. In atemberaubend schönen, aber oft eben auch viel zu langen Einstellungen erzählt Reygadas eine Ehebruchsgeschichte in einer Mennoniten-Gemeinschaft in Mexico. Das Plattdeutsch, die Kleider und Gesichter der Gemeindemitglieder wirken in lateinamerikanischer Landschaft magisch-exotisch, ihr Liebesleid dagegen fast zu alltäglich für die cineastische Überhöhung. Auch Fatih Akins Beitrag Auf der anderen Seite ist von der geschilderten Regisseurs-Eitelkeit nicht ganz frei: Sechs kraftvolle Figuren, zwei Mütter, zwei Töchter, ein Vater und ein Sohn, verwebt er kunstvoll zur interkulturellen Schicksals-Begegnung, in der der Zufall eine allzu entscheidende Rolle spielen muss und selbst die stärksten Persönlichkeiten stets dem Schöpferwillen hinter der Kamera unterworfen bleiben.

Die wirklichen Überraschungen des Festivals aber bereiteten wie bereits erwähnt zwei absolute Newcomer. Mit Persepolis legte Marjane Satrapi die Filmversion ihrer autobiografischen Graphic Novel vor. Darin erzählt sie, wie sie als kleines Mädchen die iranische Revolution erlebte, acht Jahre Krieg im eigenen Land durchstand, alleine im Exil in Österreich zurechtkam - und dann am ersten großen Liebeskummer fast zerbrochen wäre. Den Kennern des Originals bot die Filmversion zu wenig Neues; für alle anderen war sie in der Mischung aus Selbstironie und Authentizität ein bewegender Genuss.

Dem Rumänen Cristian Mungiu schließlich blieb es vorbehalten mit 4 Monate, 3 Wochen, 2 Tage das Vorurteil zu widerlegen, dass ein Film, der allen gefällt, nicht herausragend sein könnte. Der Film handelt dazu noch von einem so sperrigen Thema wie einer illegalen Abtreibung im spätkommunistischen Rumänien. Mungiu hält sich streng an den äußerlichen Ablauf. Seine Kamera konzentriert sich so angespannt auf die Handlungen seiner Figuren, auf die strategische Planung und zwangsläufig chaotisch werdende Durchführung, dass man sich fast in einem Krimi glaubt. Es geht ihm dabei nie um die Moral, um gut oder böse, seine Figuren bewegen sich in den Grautönen der unheiligen Realität und bleiben doch stets menschlich. Der Film zeigt jedoch, wie diese Menschlichkeit durch ein erdrückendes Maß an Alltagsproblemen systematisch klein gehalten wird: Wo es so schwierig ist, ein Taxi zu finden, ein Hotelzimmer zu buchen, dort Besuch zu empfangen, Blumen oder Zigaretten zu besorgen, bleibt für Moral kein Raum mehr.

4 Monate, 3 Wochen, 2 Tage - des umständlichen Titels wegen während des Festivals bald nur noch als "der Rumäne" gehandelt - beeindruckte auch dadurch, dass man hier einen Regisseur bei der Arbeit sah, der gänzlich uneitel die Formen der Darstellung dem unterordnet, was er erzählen will und trotzdem über den Einsatz von Schnitt und Kamera genauestens reflektiert und mit atemberaubender Souveränität einsetzt. Das überrascht um so mehr, als Mungiu aus Rumänien kommt, einem Land dessen Filmindustrie nach dem Fall der Mauer sich in die Nichtexistenz verabschiedete. Mit dem noch jungen Regisseur leuchtet gewissermaßen auch eine ewige Hoffnung des Kinos neu auf: dass weniger die Frage der finanziellen Unabhängigkeit als vielmehr die der Unabhängigkeit im Kopf darüber entscheidet, wie überzeugend ein Film wird.

An Filmen wie diesem wird sich das Festival in Cannes zukünftig messen lassen müssen: Wird die Goldene Palme dabei helfen, ihn nicht nur in die Kinos von Paris und Berlin, zu Festivalbesuchern und Weltpresse, sondern auch dorthin zu bringen, wo es wirklich darauf ankommt: nach Tübingen, Erlangen, Bielefeld?


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