Ich weiß noch genau, wann ich das erste Mal von IMAX gehört habe. Unter dem nächsten Familien- und Freundeskreis war soeben das Berg-Fieber ausgebrochen, alle lasen Jon Krakauers Bericht über die fatale Mount-Everest-Besteigung im Mai 1996, und da kam es vor, das IMAX-Team, will heißen: die Bergsteigertruppe mit der speziellen IMAX-Kamera, die der Welt noch nie gesehene Aufnahmen vom höchsten Punkt der Erde bringen sollte. Sogar in einer recht rühmlichen Rolle. Im Gegensatz zu den von Krakauer beschriebenen und kritisierten Expeditionsteams war das von IMAX eines der vernünftigsten; es hatte, das konnte man nebenbei herauslesen, so sorgfältig und gut geplant, dass es sowohl den in Not Geratenen Hilfe leisten konnte als auch selbst den Gipfel erreichte - wenige Tage, nachdem dort in einer Nacht fünf Menschen ums Leben gekommen waren. Einen besseren Werbeclou als diese beiläufige Erwähnung als goodguys in einem Bestseller hätte sich keine IMAX-PR-Agentur ausdenken können. Auf einmal war IMAX Thema. Was das überhaupt sei, wo es das gäbe. Gott sei Dank machte in Berlin bald eines auf. Anderenfalls hätte man doch fast ins Ruhrgebiet fahren müssen, um den 40-Minuten-Dokumentarfilm Everest -Gipfel ohne Gnade sehen zu können. Was irgendwie beschämend gewesen wäre, schließlich leben wir in einer Hauptstadt.
Das mentale Bergfieber war also vielen Leuten, die ich kenne, ein willkommener Anlass, einen Ort aufzusuchen, den man sonst in der bewährten Haltung der Medienkritiker und Kulturpessimisten gemieden und als Schaubudenspektakel abgetan hätte. Denn IMAX spricht als Konzept genau jene als niedrig erachteten Triebe im Zuschauer an, die da wären: Lust auf Sensation, Überwältigung und Spaß an der "reinen", weil inhaltsleeren Technik. Geworben wird hier mit Superlativen: die größte Leinwand Europas! Die soll übrigens in London stehen, wo es einen Vorfilm gibt, in dem der Monty-Python-Komiker John Cleese demonstriert, wieviele Doppeldeckerbusse in Originalgrösse auf die Leinwand passen. Mehr lässt sich über IMAX als Prinzip kaum in Erfahrung bringen: Die Metermaße der Leinwand und das Lob der Erfindungen, die dazu nötig waren, ein superscharfes, leuchtstarkes Bild darauf zu projizieren.
Der erste Blick in das Programm der hier gezeigten Filme enttäuscht denn auch die gerade gewonnene Lust aufs Innovative: Ägypten- Erbe der Pharaonen, Wunderwelt derMeere, Amazonas, Grand Canyon, Blue Planet- Ein Porträt unserer Erde, und natürlich darf auch Die Serengeti nicht fehlen. Es sind die bekannten Themen aus Erdkundeunterricht, Sonntagabend-Fernsehfeatures und Diavorträgen in der Urania. Und tatsächlich muss man in keiner Weise fürchten, im IMAX-Kino von neuen revolutionären Erkenntnissen über unseren Planeten überrascht zu werden. Ganz im Gegenteil, man kann sich auf angenehme Weise im eigenen Halbwissen bestätigt sehen und entspannt der sonoren Stimme lauschen, die im typischen Discovery-Channel-Märchenonkelton das Übliche erzählt. Das Übliche ist im übrigen sehr um politicalcorrectness bemüht, es wird oft "wir" gesagt, wir Zuschauer, wir Entdecker, wir Wissenschaftler, wir Dokumentarfilmer - da wird nicht groß unterschieden, denn unser aller Zuhause ist die Erde. Die meisten Filme sind angemessen ökologisch angehaucht und im klassischen Sinne aufklärerisch - so bekommt man von Omar Sharif in Ägypten -Erbe der Pharaonen mitgeteilt, dass der sogenannte Fluch des Pharao ein Mythos ist und Grab-Entdecker Carter sich eines langen Lebens erfreute. Was man ja schon immer mal wissen wollte.
Das Neue ist also allein der Schauwert. Das riesige Bild, vor dem man als Zuschauer sich ergibt, weil man gar nicht mehr nachkommt mit dem Schauen. Die verschärfte Form dieses Erlebnisses sind die 3D-Filme. Thematisch schließen die meisten an die althergebrachte Monsterfilm-Tradition an: T-Rex und AlienAdventure. Aber auch hier gilt: Nicht der Inhalt, gar die Handlung ist das Spannende, es ist der Effekt, der einen geradezu in kindliche Verzückung versetzen kann und die noch Unerfahrenen immer wieder über den Kopf des Vordermanns ins Leere greifen lässt beim Versuch, das durch die Brille geschaute Objekt zu umfassen, von dem man doch weiß, dass es nicht da ist.
Hat man sich von der Verzückung durch die Schauerlebnisse erholt, möchte man eigentlich mit einem Sturmfeuer der Kritik an diesen Filmen einsetzen. Wo es doch so offensichtlich in reiner Form um das Spektakel geht, warum verkleiden sich all diese Filme noch im pseudopädagogischen Gestus, im übrigen eine der ältesten Schaubudentraditionen? Die Freude am Spiel mit der Belehrung zu verbinden, von diesem typisch bürgerlichen Gedanken scheint auch das IMAX-Format sich kaum lösen zu können. Als gäbe es ein Moment der Scham über den Exhibitionismus, um den es doch im wesentlichen hier geht, wird die Flut der Bilder immer wieder gezähmt von narrativen Rahmenhandlungen, die oft genug die Spannungskurve eher senken als heben.
Doch oh weh: Das IMAX braucht unsere Kritik nicht. Es ist viel zu erfolgreich dazu. Ausverkaufte Vorstellungen bei riesigen Sälen sprechen ihre eigene Sprache. Und warum sollte eine Sache, die so viel unkritischen Zuspruch erfährt, mit wirklich neuen Ideen experimentieren? So bleibt einem als Medienkritiker nur die Position des melancholischen Betrachters, der sich erinnert, wie einst in den zwanziger Jahren in Film und Theater theoretisch der Anschluss an die Sinneskünste des Jahrmarkts gesucht wurde. Eisenstein wollte Attraktionen montieren, Meyerhold pries die Techniken der Schaubude, und Brecht wollte Zuschauer, die Theater wie einen Boxkampf verfolgen. Das IMAX-Kino bietet seine ganze Technologie für die Sinne auf und ist in der Tat eine Art Jahrmarkt im neuen Gewand. So auch das Publikum. Wer einmal da war, kommt öfter, man befindet sich unter Experten des Sehrausches, die einem von den schönsten Kameraflügen (die bevorzugte Aufnahmesequenz aller IMAX-Filme) erzählen können. Zwei Oscar-Nominierungen gab es in der Sparte shortdocumentary für IMAX-Filme 1998. Bereits süchtig geworden, wünscht man sich doch noch, dass die Erzähltechniken bald Anschluss an die Schautechniken finden.
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