Jeder denkt für sich allein

Serien Barbara Schweizerhof bestaunt die True-Crime-Miniserie „Unbelievable“. Spoiler-Anteil: 77%
Ausgabe 51/2019

Der auf der Hand liegende Nachteil aller Verfilmungen, die sich das Label „based on a true story“ voranstellen, besteht darin, dass man das Ende schon kennt. Andererseits hat auch das sichere Wissen, dass der Dampfer sinkt, Millionen von Menschen nicht davon abgehalten, sich gleich mehrfach Titanic anzuschauen. Und mehr noch: das Sinken auch noch spannend zu finden. Wie sich der Kahn schließlich senkrecht aus dem Wasser hebt! Kate und Leo, wie sie Abschied nehmen! Manche Dinge sind so dramatisch, so voller Gefühle, dass man sie nicht spoilern kann. Man würde denken, dass etwas Ähnliches auch für True-Crime-Storys, für die Geschichte wahrer Fälle, gelten müsste. Aber tatsächlich funktionieren da jene Produktionen, sei es Film, Podcast oder Serie, am besten, bei denen der wahre Ausgang kein bekanntes öffentliches Wissen ist.

Wie bei der Netflix-Miniserie Unbelievable zum Beispiel. Sie taucht gerade in vielen „Best-of 2019“-Hitlisten auf und zählt zu den Perlen des Genres, die im gegenwärtigen Überangebot zu Unrecht untergehen. Aber im Unterschied zum Kino, wo die kleinen Filmperlen nach weniger erfolgreichem Start erst mal verschwinden, bis sie in anderen „Auswertungsfenstern“ erneut ausgegraben werden müssen, bleiben die „Streaming-Originals“ präsent, immer nur einen Klick entfernt. Den extrem Spoiler-Phoben sei empfohlen, diesen zu betätigen, bevor sie weiterlesen. Es lohnt sich.

Der Titel allein gibt nicht viel preis: Unbelievable. Das könnte sich sowohl auf die Protagonistin Marie (Kaitlyn Dever) beziehen als auf den ganzen Fall. Marie, eine junge Frau, die bei verschiedenen Pflegeeltern aufwuchs und gerade die erste eigene Wohnung bezogen hat, geht zur Polizei und zeigt eine Vergewaltigung an. Sie ist unsicher, sehr verhalten. Den traumatisierenden Vorfall wieder und wieder wechselnden Polizisten erzählen zu müssen, erschöpft sie. Gleichzeitig hat wohl das Aufwachsen im Pflegefamiliensystem sie extrem empfindsam dafür werden lassen, was ihr Gegenüber über sie denkt. Marie merkt schnell, dass man ihr nicht wirklich glaubt. Und sie fragt sich, ob es nicht besser wäre, die Anzeige wieder zurückzuziehen. Schließlich will sie nur noch raus aus der Situation und das Ganze vergessen. Als sie dem Unglauben der Polizisten nachgibt und unterschreibt, alles erfunden zu haben, hört der Albtraum jedoch keineswegs auf: Ihr fliegt prompt eine Gegenanzeige mit Geldstrafe ins Haus. Auch das: Unbelievable!

Wer den wahren Fall – die Serie beruht auf einer ProPublica.org-Reportage – nicht kennt, kann die Serie auch als Test für die eigene Vorurteilsstruktur nehmen. Irgendwas an Marie ist doch unglaubwürdig, oder? Müsste sich ein „echtes Opfer“ nicht anders verhalten? Und haben junge, sozial vernachlässigte Frauen nicht oft die Neigung, Aufmerksamkeit auf sich ziehen zu wollen? Schließlich sagt sogar eine Pflegemutter von Marie, dass sie dem Fall nicht ganz traut, hat sie doch die 16-Jährige mal beim aufreizenden Tanzen für ein paar Jungs erwischt.

Es ist eine der großen Stärken der Miniserie, dass sie Maries „Gegenspieler“ – die Pflegemutter, die Polizisten, die ihre Anzeige aufnehmen – nicht einfach zu den Bösewichten der Story macht, sondern deren Perspektive verständlich erscheinen lässt: Jeder sieht eben nur das, was er in seinem eigenen Horizont für möglich hält.

Maries Fall hätte mit der Geldstrafe wegen Falschanzeige – und einem entsprechenden Eintrag in die Statistik! – geendet, wenn nicht wenige Jahre später zwei Polizistinnen in einem anderen US-Staat eine gewisse Ähnlichkeit des Falls mit einer aktuellen, von ihnen verfolgten Vergewaltigungsserie entdeckt hätten. In der Netflix-Serie werden sie in fiktionalisierter Form von Merritt Wever und Toni Collette gespielt. Und sage niemand etwas gegen Fiktionalisierung: Man würde nämlich Unbelievable nur schlecht aushalten, wenn alles daran „true-crime“-realistisch wäre. Vielleicht gerade, weil es der Serie in bewundernswerter Weise gelingt, die Details der Vergewaltigungsfälle betont sachlich zu halten und Augen und Ohren für die Perspektive der Opfer zu schulen, ist alles auch sehr bedrückend. Da tut die geradezu John-Wayne-hafte Coolness, die Collette und Wever ihren Frauenfiguren verleihen, unglaublich gut. Und für nicht wenige mag es besonders in diesem Fall viel angenehmer sein, schon vorher zu wissen, wie es ausgeht: Die Guten siegen. Endlich mal!

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Geschrieben von

Barbara Schweizerhof

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Film“ (Freie Mitarbeiterin)

Barbara Schweizerhof studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und arbeite nach dem Studium als freie Autorin zum Thema Film und Osteuropa. Von 2000-2007 war sie Kulturredakteurin des Freitag, wechselte im Anschluss zur Monatszeitschrift epd Film und verantwortet seit 2018 erneut die Film- und Streamingseiten im Freitag.

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