Für dich soll's rote Rosen regnen", bekommt Benjamin beim Abschied vorgesungen. Zuerst sind es nur drei eher zarte Mädchenstimmen, die in der Großküche des Internats an der merkwürdig stockenden Melodie fast zu scheitern drohen. Doch beim Refrain kommen die vorsichtigen Stimmen der Jungs hinzu und für einige zauberhafte Momente wird das über 30 Jahre alte Chanson von Hildegard Knef zur Hymne von 16jährigen: "Dir sollten sämtliche Wunder begegnen".
Von außen betrachtet, ist 16 Jahre ein glamouröses Alter; voller Verheißungen, denn schließlich werden die wesentlichen Dinge des Lebens zum ersten Mal erlebt und alles scheint offen. Aus der Innenperspektive stellt sich das anders dar, woran man sich oft später kaum noch erinnern mag. Paradoxerweise wird gerade die Zeit in gnädiges Rosa getaucht, in der man sich vor allem eines wünscht: anders oder älter sein. Der Film Crazy macht sich die Selbstwahrnehmung eines 16jährigen zur Perspektive, deshalb versöhnt hier auch keine bittersüße Melancholie des Zurückschauens mit dem Dargestellten - wie sonst üblich in Filmen über Adoleszenzkrisen. Es ist vor allem eine große Differenz zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung, die das Selbstgefühl in dieser Zeit bestimmt: Kaum jemand, der sich in dem Alter nicht auf irgendeine Weise verwachsen, verkrüppelt, entstellt oder anders aus der Norm fallend empfindet.
Benjamin, gespielt von Robert Stadlober (noch als "Wuschel" in Sonnenallee in guter Erinnerung), sozusagen der Ich-Erzähler in Crazy, wird von seinen Eltern ins Internat geschickt, damit er endlich die neunte Klasse schafft. Seinen neuen Mitschülern stellt er sich in selbstquälerischer Brutalität gleich als Krüppel vor; er ist halbseitig spastisch gelähmt. Aber die kleine Truppe von Kumpels, zu denen er bald gehört, steht ihm an Stigmatisierungen im Grunde in nichts nach. Angefangen mit "Kugli", der, wie im Spitznamen angedeutet, zu dick ist, über Felix, der eher das gegenteilige Problem hat, und dem von seiner Oma eingekleideten Florian, den sie deshalb "Mädchen" nennen, bis hin zu Troy, der so gut wie nie etwas sagt und von dem daher niemand weiß, was eigentlich sein Problem ist - sie alle eint ein gewisses exzentrisches Verhältnis zur Welt und das Unwohlsein, das kaum verbergen zu können. Nicht alle haben vor dem Leben "draußen" so viel Angst wie Troy, aber jeder genug: "Die Welt sollte sich umgestalten und ihre Sorgen für sich behalten."
Crazy ist die fast schon hastig zu nennende Verfilmung des gleichnamigen Erfolgsromans aus dem letzten Jahr, einem autobiographisch gefärbten Werk des selbst mittlerweile erst 18jährigen Benjamin Lebert. Weder die Eile im Schreiben noch im Drehen - insgesamt nur ein halbes Jahr - sieht man dem Film an. Hans-Christian Schmid hatte bereits mit Nachfünf im Urwald gezeigt, dass er eine atmosphärische Sensibilität für die Tage nach der Kindheit hat. Im übrigen, ohne die Erwachsenen dabei zur Karikatur verkommen zu lassen. So finden sich auch Benjamins Eltern in Crazy mit viel Liebe dargestellt, obwohl sie sich in eher eingefahrenen Bahnen verhalten. Die Mutter (Dagmar Manzel) ist besorgt, wie sich das gehört, und der Vater (Burghart Klaußner) hat eine andere. Aber wie das zufällige Zusammentreffen in einem Restaurant von Vater mitsamt Geliebter und dem Rest der Familie abläuft, das ist in feinen Strichen ein gelungenes Porträt einer ganzen Elterngeneration.
Das Schöne an Crazy ist, dass der Blick von innen heraus gewahrt wird. Ohne stilistisch allzu auffällig zu werden, stellt Schmid die übertriebene Intensität der jugendlichen Wahrnehmung dar. Kurze halluzinatorische Vergrößerungen oder ein eindringliches Slowmotion stehen dafür ein. In der Folge erscheint alles - der Sommer, der See, das schlossartige Internatsgebäude mit Alpenblick, der leicht geneigte Kopf von Malen, dem Schwarm der Jungs - in flirrender Sinnlichkeit. Benjamins Blick auf seine Umgebung ist gnädig und doch unumwunden, distanziert und gleichzeitig mittendrin. Trotz der genreüblichen Gruppenwichsszenen werden die Figuren nie der Lächerlichkeit preisgegeben.
Nach kurzer Zeit schon ist man als Zuschauer dieser Ansammlung leicht grotesker Unglücksgestalten so nahe, dass man beginnt, um sie zu fürchten. So wenn sie beschließen, ein Stripteaselokal aufzusuchen: so auffällig jung wirken die Jungs in dieser Umgebung und vor allem viel zu beeindruckt und freudig erregt, für jede Art von groben Witzen ein willkommenes Opfer. Aber es kommt nur zum verschärften Verweis durch den Schuldirektor, quasi eine Heldenauszeichnung, keine Entblößung. Oder auch das Rockkonzert, auf dem der dünne Felix mit seiner Band als Vorgruppe auftritt und zwei selbstgetextete Lieder zum besten gibt, so schräg und tief empfunden, dass man auf einmal wieder weiß, wofür Rockmusik erfunden wurde: für den Aufschrei frustrierter junger Seelen. Unwillkürlich verfolgt man den Ablauf im Grunde nichtiger Ereignisse - Baden, Schule, Biertrinken - mit zunehmendem Ernst. Der Film stellt mehr und mehr heraus, wieviel unfreiwilliger Heroismus im Kampf um Anerkennung und Erwachsenwerden steckt. Vor allem, weil trotz Gruppengefühl die Figuren in ihrer eigentümlichen Einsamkeit belassen werden. Sie sind nur in Maßen nett zueinander, und selbst gute Freundschaften sind von manipulativem Verhalten und kleinen Erpressungen geprägt. Die Mädchen gehören in dieser Perspektive einer ganz anderen Dimension an, der zwar viel Aufmerksamkeit gewidmet wird, mit der sich aber kaum reale Kontakte ergeben. Die wenigen sind allerdings sehr entscheidend.
Teenagerkomödien sind im allgemeinen ein gut florierendes Genre, im Vergleich zu einem Film wie Crazy wirken sie allerdings wie zynische Machwerke von großer Brutalität. Denn in Crazy wird eine Art prekäres Gleichgewicht gewahrt, nicht nur auf der Ebene des Genres (weder Komödie noch Tragödie), sondern auch auf der des Geschehens: Nichts, was passiert, ist wirklich schlimm, aber auch nichts wirklich beglückend. Das Wort crazy steht genau für die Untiefen zwischen diesen Extremen. Es ist weniger Slangwort, als vielmehr Emblem für ein Empfinden. Wie überhaupt die Helden des Films auf ausgesuchte Weise sprechen. Umständlich und knapp zugleich, immer bemüht, etwas Eigenes auszudrücken, und immer leicht daran scheiternd, weil sie auf Formeln zurückgreifen. So kommt auf allen Ebenen jene speziell jugendliche Verstiegenheit zum Ausdruck, von der auch Knefs Roter-Rosen-Song handelt - dem unbedingten und gänzlich unbescheidenen Anspruch auf alles Mögliche, von dem man schon weiß, dass das Leben dem nicht standhält: "Das Glück sollte sich sanft verhalten, es soll dein Schicksal mit Liebe verwalten". In der Erinnerung war die Zukunft stets schöner.
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