Für jeden kritischen Leser und die meisten professionellen Historiker handelt ein Geschichtsbuch von etwas anderem, als es zunächst den Anschein hat. Es handelt nicht vom Römischen Reich, sondern von dem, was wir von diesem Reich noch wissen können«, schrieb der französische Historiker Paul Veyne. Inzwischen wird Geschichte weniger geschrieben als vielmehr bebildert und das bevorzugte Medium dafür ist das Fernsehen. Die Verwechslung von Gegenstand und Vermittlung hat dadurch noch weitere Verbreitung gefunden, denn vertonte Bilder besitzen eine verfüherische Scheinplausibilität. Das ist ihre Stärke. Sie können aufwühlen und berühren. Von Populärwissenschaft Präzision und besonderen Tiefgang einzuklagen, hat wenig Sinn. In der Populärkultur geht es um Haltungen und Intensitäten. Man will Eindruck machen.
Schon an den Einzeltiteln der vierteiligen Serie Hitlers Krieg im Osten, einer Koproduktion der BBC und des NDR, lässt sich das klar ablesen: Der Überfall, Der Terror, Der Wendepunkt und Die Vergeltung. Alles Fangworte mit hohem Emotionalisierungswert; ein Drama in vier Akten, es geht um Macht und Gewalt. Nach Sichtung der ersten drei Teile verstärkt sich allerdings der Verdacht, dass Laurence Rees' Dokumentation tatsächlich von etwas anderem handelt, als es den Anschein hat - »Hitlers Krieg« ist nur der Vorwand, es ist »Stalins Krieg«, der Rees in erster Linie fasziniert.
Das hängt auf vertrackte Weise zusammen mit der Frage, die man nach Veyne an jede Geschichtsschreibung stellen sollte: Was können wir wissen? Über die sowjetische Seite konnte man lange nur die offiziöse Geschichtsschreibung mit Spekulationen gegenrechnen. Mit fast begierig zu nennendem Eifer versucht Rees nun, die bisherigen Leerstellen zu füllen. Seine Dokumentation gerät dabei in eine bedenkliche Schieflage: die Grausamkeiten Stalins, seiner Partisanen, seiner Armee werden als Neuentdeckungen präsentiert. Nicht nur unterschwellig wirken sie so wie nachgelieferte Rechtfertigungen für das Vorgehen der deutschen Truppen, deren Verbrechen als scheinbar hinlänglich bekannte darüber ganz in den Hintergrund treten.
Was im Gedächtnis bleibt aus dieser Dokumentation sind denn auch nicht Fakten, sondern Untertöne, die suggestiv Bedeutungen nahelegen, die niemand so gesagt haben will. »Die Soldaten waren fanatisch bis zum Äußersten«, beschreibt ein ehemaliger Offizier der Wehrmacht seine sowjetischen Gegner. Es ist eine seiner Begründungen für die Niederlage bei Stalingrad. Als hätten die Deutschen wegen mangelndem Fanatismus den Krieg verloren. Rees' Zeitzeugen berichten von vorderster Front. Hier wie dort sitzen alte Männer (auf sowjetischer Seite auch Frauen) in ihren Wohnzimmern vor der Kamera und erzählen. Die einstigen Sieger in viel bescheideneren Verhältnissen als die Kriegsverlierer. Aber daran hat man sich wohl gewöhnt. Hier wie dort bildet die Biederkeit der gegenwärtigen Umgebung einen beruhigenden Kontrast zu den Schrecken des Erzählten. Wie vom Krieg geredet wird, ist jedoch sehr verschieden.
Die Aussagen der deutschen Kriegsteilnehmer verdeutlichen symptomatisch, welches Problem schon die nachfolgende Generation mit diesen Vätern hatte: Man kann es kaum ertragen, ihnen zuzuhören. Denn mit der Erinnerung kommt die Sprache von damals hervor und Sätze wie: »Wir waren zivilisierter als die«; »Was die hatten stellte keinen großen Wert dar«; »Wenn wir gewonnen hätten, wäre alles richtig gewesen«. An fast keiner Stelle erzählen sie von sich. Es gibt »den Russen«, das allgemeine »wir«, das noch allgemeinere »man«. Der Sprachfluss ist freimütig, und doch wird das eigene, personale Engagement verdeckt vom Bericht über »Gegebenheiten«.
Die sowjetische Seite erinnert persönlicher und die eigene Involviertheit muss nicht schamvoll ausgespart werden. Ein Mann schildert sich als mordgierigen, mitleidslosen Jungen im Kessel von Stalingrad. So weit entfernt diese Vergangenheit von dem freundlichen älteren Mann im Fernsehbild auch scheint, er hat Zugang zu diesem anderen Selbst, das nicht aus abstrakten Begründungen heraus grausam war. Damals und heute sind unterscheidbare Größen. Eine Frau schildert distanziert und gefasst, wie sie einen deutschen Gefangenen erschossen hat. »Im Westen würde man sagen, dass Sie eine Mörderin sind«, hält ihr sinnigerweise der Gesprächspartner entgegen. »Heute würde ich es nicht mehr machen«, antwortet sie, und setzt dann hinzu, wenn die Situation wieder eine ähnliche wäre wie damals, dann wahrscheinlich doch.
An Stellen wie diesen leuchtet auf, was die Dokumentation nicht sein will, aber ihr herausragender Zug hätte werden können: die große Geschichte in fragmentierten Einblicken der Einzelnen und ihres Handelns neu sichtbar zu machen. Aber Rees zieht es vor, die Zeugenschaft seiner Protagonisten mit der großen Erzählung von Stalin und Hitler als Kampf zweier grausamen Tyrannen zu überblenden. Mit Vorliebe füttert er die Mythen der Vulgärhistorie: Was wäre, wenn Hitler sich nicht so dilettantisch in die Kriegsführung eingemischt hätte? Wenn Stalin Moskau verlassen hätte? Effektvolle Fragen, aber: Können wir darüber etwas wissen?
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