Es hätte so schön sein müssen: Seit Jahren fiebert die Filmwelt dem feierlichen Moment entgegen, an dem endlich, endlich eine weitere Regisseurin zum Abschluss des Festivals in Cannes die Goldene Palme in die Kameras halten darf. 1993 war das zuletzt der Fall, als die Neuseeländerin Jane Campion für Das Piano diese Ehre mit dem Chinesen Chen Kaige (für Lebewohl, meine Konkubine) teilte. Und welch besseren Moment hätte es dafür gegeben, als das erste große Post-Corona-Filmfestival, auf dem gleichzeitig Wiederkehr und Neugeburt des Kinos als solches gefeiert werden sollte? Aber sowohl was Corona als auch das Kino als auch die Gleichberechtigung im Regiefach anbelangt, zeigte sich: In der Realität passieren die Dinge so chaotisch, dass selbst, wenn alles richtig läuft, es doch als Panne daherkommt.
Denn so war es: Der historische Moment wurde „verdorben“ durch einen Versprecher. Zum Beginn der Verleihung aufgefordert, den „1. Preis“ zu nennen, trat der amerikanische Regisseur Spike Lee, in frankofoner Umgebung sichtlich angestrengt und sowieso mehr mit Sportereignissen vertraut, mit Zettel ans Mikrofon und begann „Platz 1“ vorzulesen: „Die Goldene Palme geht an Titane ...“ Erst da hatte ihn Jury-Kollegin Mélanie Laurent am Ärmel und konnte unterbrechen.
Sie habe es gehört, aber nicht glauben können, meinte später Julia Ducournau, die Regisseurin von Titane, die mit diesem Preis Geschichte schrieb. Gute 40 Minuten Zeremonie (mit noch weiteren kleinen Pannen) musste die Französin durchstehen, bevor sie mit vollkommen authentischer Überraschung die Bühne betreten konnte.
Authentisch dürfte Ducournaus Überraschung auch deshalb gewesen sein, weil ihr Film keineswegs rundweg auf Euphorie gestoßen war. Im Gegenteil, ihr kühner Genre-Mix aus Fantasy und Horror, in dem eine genderfluide Serienkillerin Sex mit einem Cadillac hat, landete im Kritikerspiegel des Branchenblatts Screen auf dem viertletzten (von 24 Filmen!) Platz; Guardian-Kritiker Peter Bradshaw bezeichnete ihn als „a bit silly“, die Filmkritiker der französischen Libération hatten ihm null Punkte gegeben und als zweitrangige Mischung aus „kryptofaschistischen Clips und amerikanischem Genrekino der 1980er Jahre“ beschrieben. Es sind halt immer wieder die kleinen Fehler, die die große Geschichte markieren.
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