Wahrscheinlich haben sich die Macher von Berlin - Ecke Bundesplatz gewünscht, man möge den Bundesplatz nach ihrer sechsteiligen Dokfilmserie mit anderen Augen sehen. Vielleicht so, als habe man dort eine Zeitlang gewohnt. Das musikalische Leitthema erinnerte stark an die Titelmusik der Lindenstraße - war das als Aufforderung gedacht, sich beim Betrachten so heimisch zu fühlen wie einst die Zuschauer in Deutschlands dienstältester Seifenoper? Wäre Berlin - Ecke Bundesplatz eine Dokusoap, also jene Art Dokumentarfilm, in der real beobachtete Ereignisse im Hinblick auf dramatische Zuspitzungen montiert werden, ließe sich das noch als ironische Anspielung verstehen. Da aber die ganze Machart des Sechs teilers vor allem davon geprägt war, jeder Form von Fiktionalisierung entgegenzuarbeiten und darin einen fast altmodisch zu nennenden Glauben an Authentizität verriet, drängte sich der Gedanke auf, dass die Verwandtschaft zur Lindenstraße
auf anderer Ebene lag: eher auf der des gewissen sozialpädagogischen Eifers und der Verpflichtung auf political correctness.
Jeweils 90 Minuten lang wurde eine Person beziehungsweise ein Paar über die Zeitspanne von 1986 bis 1999 verfolgt, und jedes Mal musste man am Ende als Zuschauer mit einer gewissen Überraschung registrieren, wie wenig man doch erfahren hatte über diese Menschen und über diesen Ort. Über eines aber konnte man während dieser insgesamt 540 Minuten viel erfahren: Über Grenzen und Möglichkeiten des in letzter Zeit so allseits beliebten Genres der Langzeitbeobachtung. Als solches bedient dieses Genre jene Art von Neugier, die einen trotz gemischtester Gefühle auch zu Klassentreffen gehen lässt, verspricht es doch Antwort auf die einfache Frage: Wie verläuft eigentlich das Leben der anderen? Das Genre selbst gibt bereits vor, dass es interessant und schön ist, wenn sich über einen Zeitraum hinweg Veränderungen beobachten lassen. Am allerschönsten sind dabei natürlich jene Vorher/Nachher-Effekte, wie sie das Prominenten-Gegenstück zum Bundesplatz, Herlinde Koelbls Spuren der Macht so augenfällig mit dem dicken und dem dünnen Joschka Fischer vorführte. Doch gerade der Vergleich mit Koelbls Langzeitbeobachtung macht auf eine Hauptschwierigkeit solcher Projekte wie Bundesplatz aufmerksam. Koelbl hat es mit erfahrenen Selbstdarstellern zu tun, die auch ihr privates Antlitz mit ziemlicher Souveränität zu benutzen verstehen, um sich als vollwertige Persönlichkeiten in Szene zu setzen. Die Autorin der Dokumentation und ihre Objekte sind sozusagen durchaus ebenbürtige Antagonisten im Kampf um Imagepflege und Entlarvung. Jene vornehmlich "kleinen Leute", die Detlef Gumm und Hans-Georg Ullrich mit ihrer Kamera so hartnäckig über zwölf Jahre verfolgen, sind dagegen Beobachtungsobjekte, die man wohl schützen muss, auch vor sich selbst, denn allzu leicht lassen sie sich an die Kritik, wenn nicht gar dem Hohn und Spott des Zuschauers ausliefern.
Schützen, ohne zu schonen, das könnte das Motto der Fragen gewesen sein, die die beiden Autoren ihren Protagonisten über die Jahre hinweg immer wieder stellten. Sanft sollten sie durch Fragen wie "Was wünschen Sie sich im Leben noch?", "Was war das Wichtigste für Sie in den letzten Jahren?", "Hätten Sie was anders machen wollen?" zu selbstreflektierenden Darstellungen herausgefordert werden. Doch ganz anders als die Prominenten, denen Koelbl im übrigen fast die gleichen Fragen gestellt hat, nutzen die Bundesplatz-Bewohner den ihnen gewährten Raum weder zum ausführlichen Erzählen noch zu philosophischen Randbemerkungen. Sie nutzen ihn haupt sächlich zur Demonstration einer Art störrischen Bescheidenheit. Wie das Bäckerehepaar aus dem Kiez, das seinen Laden verkaufen muss und überhaupt wenig vom Schicksal verwöhnt wird, und das die eigenen Entwicklungen doch stets mit demselben Gleichmut kommentiert.
Ein langgedehntes "Nöh", ein kompromißlerisches "Na ja" und ein kurzes widerspenstiges "Ach", das sind die häufigsten Antworten, die die Autoren auf ihre Fragen bekommen. Und irgendwann begreift man als Zuschauer den zutiefst zwiespältigen Status der Beobachteten: Einerseits geschmeichelt, durch die Teilnahme an diesem Projekt aus der grauen Masse der Bundesplatz-Bewohner hervorgehoben zu werden, sind sie doch auf eine im Grunde wenig schmeichelhafte Rolle festgelegt: "Typische" Vertreter einer bestimmten sozialen Rolle darzustellen, wie bereits in den Untertiteln der Serienteile angekündigt: Der Aussteiger, die Alleinerziehende und so weiter. Überhaupt erweist sich über die Länge dieser Dokfilmserie die Ursprungsidee der Projektautoren, am Anfang Leute kennenzulernen und dann immer wieder nachzuschauen, was aus ihnen geworden ist, nur vorgeblich als Selbstläufer. Die Autoren sind auf Veränderungen aus, ihre Beobachtungsobjekte wollen sich selbst treu bleiben. Das Konzept, die Menschen sich in erster Linie durch Reden selbst darstellen zu lassen, scheint gut gemeint und ganz im Interesse der Protagonisten. Als Langzeitprojekt jedoch verkehrt es sich fast unweigerlich ins Gegenteil: Wer will schon damit konfrontiert werden, was er über sich vor zehn Jahren gesagt hat? Wer will denn wirklich beim ständigen Scheitern an den eigenen Träumen und Ambitionen, das für all diejenigen, die eben nicht von Herlinde Koelbl photographiert werden, der Alltag ist, beobachtet werden? So halten sich die Bundesplatzbewohner mit sicherem Instinkt stets bedeckt, manchmal so sehr, dass sie kaum mehr die Neugier des Zuschauers auf sich ziehen.
Dieses zähe Ringen der Autoren mit ihren doch eher widerspenstigen Beobachtungsobjekten war denn auch teilweise interessanter als die so zurückhaltend geschilderten alltäglichen Lebenswege. Ein seltsames Gezerre um das Primat des Geschichtenerzählens bildete sich da ab und brachte die implizierten Werturteile von authentisch dokumentieren (gut) und dramatisieren oder gar fiktionalisieren (schlecht) durcheinander. Gumm und Ullrich wollten sichtlich die Autoren eines polyphonen Entwicklungsromans werden, den das Leben ihnen in die Kamera diktierte. Doch so leicht lassen sich die Subjekte das Erzählen ihrer eigenen Geschicke nicht aus der Hand nehmen. Recht so! - will man ihnen zurufen. Bezeichnenderweise war der ergreifendste Teil der Dokserie jener über die "Wilmersdorfer Witwen". Das hatte durchaus damit zu tun, dass die älteren Damen den größten Teil ihrer Lebensgeschichte schon hinter sich hatten - sie waren sicher davor, dass sie jemand mit Dokumentationen ihrer Irrtümer von gestern konfrontierte. Und so konnten ihre Lebensgeschichten den besten Ausdruck finden in einem Medium, über das sie ganz selbst verfügten: In ihren sperrigen Charakteren, die auf eigene Art ungeheuer beredt waren. Die Subjekte haben die Gabe, sich selbst zu erfinden, heißt es, doch da befinden wir uns ja bereits im Genre der Fiktion.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.