Die großen Debatten haben inzwischen eine Lautstärke angenommen, die alle leisen Töne quasi ausmerzt. Nicht nur das Kino befindet sich im gefühlt permanenten Superhelden-Modus: überdimensionale Bösewichte, immer aufs Ganze gehend, stets muss die Welt gerettet werden, mit übermenschlichen Kräften. Filme wie Wajib drohen immer mehr unter die Wahrnehmungsschwelle zu sinken und als randständig, zu klein und deshalb zu „obskur“ oder zu „cineastisch“ abgestempelt zu werden. Was nicht nur schade ist, sondern kontraproduktiv. Denn Wajib handelt von Wichtigem: von Zwischentönen, von Widersprüchen und ihrer Unlösbarkeit – und davon, wie man es trotzdem darin aushält. Weil man eben „hier lebt“.
Das Hier des Films ist dabei um ein paar Grade schwieriger zu navigieren als Berlin, Paris oder sogar London: das israelische Nazareth mit seiner größtenteils arabischen, sich in Muslime und Christen aufteilende Bevölkerung. Die beiden Hauptpersonen des Films sind ein christlich-arabisches Vater-Sohn-Paar. Der alte Lehrer Abu Shadi und sein nach Italien ausgewanderter Architekten-Sohn Shadi; gespielt werden sie von einem Schauspieler-Vater-Sohn-Paar, von Mohammad und Saleh Bakri. Ihr Äußeres bildet den Generationenkonflikt zwischen ihnen fast plakativ ab: Der Vater trägt Pullover unterm Jackett und eine Art Schiebermütze auf dem Kopf, alles mehr oder weniger in grau; sein Sohn bindet sich die langen Haare zu einem prächtigen „man bun“, seine Hose ist rot und sein Hemd bunt gemustert. Regisseurin Annemarie Jacir, selbst in Bethlehem geboren, zeigt ihr Fingerspitzengefühl darin, dass sie den plakativen Kontrast der Kleidung zunächst völlig unkommentiert lässt, drückt sich doch genau darin, im stummen Hinnehmen des demonstrativ abweichenden Verhaltens eine schon länger zurückreichende Geschichte familiärer Konflikte aus.
Zusammen fahren die beiden Shadis im Auto durch Nazareth, um die Einladungen zur Hochzeit von Tochter, beziehungsweise Schwester Amal an Verwandte und Bekannte persönlich zu überbringen; die Tradition will es so. Es ist eine wunderbare Filmprämisse, weil sie einerseits die Kamera in ständiger Bewegung hält und andererseits mit immer neuen Begegnungen weitere Aspekte im Vater-Sohn-Verhältnis offenlegen kann. Jedes Überbringen ist mit einer Einladung verbunden, zum Tee oder zu Stärkerem, und natürlich den üblichen Konversationen. Besonders der im Exil lebende Sohn wird mit Neugier bestürmt, wobei sich schon bei der ersten Station herausstellt, dass der Vater offenbar falsche Dinge über ihn erzählt. Nein, er lebe nicht in Amerika, sondern Italien; nein, er sei kein Arzt, sondern Architekt, muss Shadi immer wieder richtig stellen – und ärgert sich über den Vater, von dem er sich in seiner wahren Lebensleistung nicht geachtet fühlt. Die andere Notlüge des Vaters – dass er nämlich noch zu haben sei – lässt er jedoch meistens durchgehen. Vom eigenen Vater Toleranz dafür zu fordern, dass man unverheiratet mit einer Frau zusammenlebt, ist etwas anderes als um eben diese Toleranz vor der gesamten Verwandtschaft kämpfen zu müssen.
Dein Hemd ist peinlich
So selbstbewusst Shadi mit Zopf durch die Gegend läuft, scheut er doch die großen Konflikte. Wobei Jacirs wunderbar präzises Drehbuch einmal nicht Tradition gegen Moderne, Ideal gegen Kompromiss gegeneinander ausspielt, nicht dem Aussteiger über dem Angepassten Recht gibt, sondern das Lavieren zwischen den Polen als die eigentliche Überlebenskunst zeigt.
In dramatischer Hinsicht passiert nicht viel in Wajib. Sicher, Shadi wird doch noch für sein buntes Hemd vom Vater gehänselt, und als der seinen israelischen Vorgesetzten einladen will, wird der Sohn so wütend, dass er aussteigt und zu Fuß nach Hause stapft. Aber später sitzen sie dort wieder zusammen, Vater und Sohn, und erkennen mit stummen Gesten an, dass Ideale und Vorsätze das eine sind, und das Weiterleben im Hier und Jetzt das andere. Rauchen ist unbestritten ungesund, auf lange Sicht, aber in manchen Momenten sehr, sehr entspannend.
Info
Wajib Annemarie Jacir Palästina, Frankreich 2017; 96 Minuten
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