Ziemlich genau 40 Jahre ist es her, dass in einem Bericht des CDC, dem inzwischen durch Corona hinlänglich bekannten amerikanischen „Center for Disease Control“, zum ersten Mal Fälle einer seltenen Lungenentzündung unter homosexuellen Männern in Los Angeles erwähnt wurden. Es war der 5. Juni 1981; die Krankheit, die als Auslöser der Pneumonie galt, hatte noch keinen Namen. Zwischendurch sprach das CDC von ihr als „4H“-Krankheit, weil offenbar nur „Heroinabhängige, Homosexuelle, Hämophile und Haitianer“ davon betroffen schienen. Später erwog man die Benennung „GRID“ – für „Gay-Related Immune Deficiency“, bevor im Juli 1982 der Begriff AIDS für „Acquired Immunodefici
Leben, Lust – und Tod
Minserie „It’s a Sin“ beschreibt, wie AIDS im London der 80er in den Alltag einer lebensfrohen Wahlfamilie eindringt. Die Parallele zu Corona erschließt sich von selbst
iciency Syndrome“ eingeführt wurde.Im Herbst 1982 gab es die ersten dokumentierten Todesfälle in Deutschland. Und im Juni 1983 machte der Spiegel die erste Cover-Story zum Thema. „Tödliche Seuche AIDS. Die rätselhafte Krankheit“, lautete die Schlagzeile über zwei nackten Männerleibern, die sich in ominöser Ausleuchtung gegenüberstehen. Zwischen ihnen, platziert wie ein Feigenblatt, prangt ein rundes Insert, auf dem sich vom schwarzen Grund Trauben von grün-weißlichen Bläschen abheben. So stellte man sich damals das Virus vor, als eine Art pusteligen Petrischalenwuchs – rührend analog, wenn man ihn mit der gängigen Hightech-Darstellung des Corona-Virus vergleicht. Die Bebilderung damals suggerierte dazu wenig missverständlich den „sündhaften“ Kontext, in dem dieser Erreger gedeihte, und das Grusel-Wort „Seuche“ tat sein Übriges: Seuche, das ist die Krankheit, vor der man sich hüten muss, weil sie den anderen passiert.Begeistert schwulEs war der erste einer langen Reihe von Spiegel-Titeln zu AIDS, deren Wirkmacht man sich heute kaum mehr vorstellen kann: Egal ob man sie las oder nicht, die Titel von Stern und Spiegel gaben damals die Stimmung im Land vor; sie waren allgegenwärtig, selbst wenn man sie nicht wahrnehmen wollte. Und mit ihnen eben auch das Geraune, das sie im Zusammenspiel von Schlagzeilen und Grafiken transportierten: Laster, Sex, Bedrohung, und zwar aus einer ganz bestimmten „Ecke“! Heute rühmt sich der Spiegel, seinerzeit früh und mutig über AIDS „aufgeklärt“ zu haben und wirft das in die Waagschale gegen die als berechtigt anerkannte Kritik an der verletzenden, ausgrenzenden und oft genug richtiggehend schwulenfeindlichen Berichterstattung.It’s a Sin nach dem gleichnamigen Song der Pet Shop Boys heißt dementsprechend auch die neue Miniserie des britischen TV-Autoren und Produzenten Russell T Davies (Queer As Folk, Doctor Who), wobei sich schnell herausstellt, dass die Pop-Ironie das perfekte Cover liefert für den Versuch, die Geschichte der AIDS-Pandemie noch einmal neu und aus der Sicht der Betroffenen zu erzählen. Was Spiegel, Stern und Co. so oft als Ekel-Faszinosum ausbeuteten, schwulen Sex, stellt Davies von Anfang an als Ausdruck von Jugend und Lebensfreude ins Zentrum. Statt abgestoßen oder befremdet zu sein, zieht es seine Protagonisten in besagtes „Milieu“, und zwar mit Begeisterung. Ritchie (Olly Alexander) verlässt seine heimische Isle of Wight voller Vorfreude in Richtung London. Die Kondome, die ihm sein Papa heimlich zugesteckt hat – „damit du kein Mädchen in Schwierigkeiten bringst“ –, schmeißt er lachend von der Fähre ins Wasser. Denn eines weiß er sicher: Die Angst vor ungewollten Schwangerschaften wird ihn nicht umtreiben. Man schreibt das Jahr 1981, Ritchie ist schwul, zu Hause hat er noch niemandem davon erzählt, aber in London will er nun endlich seine Sexualität ausleben.Als ein großes Fest des Lebens und der Leiber zeigt Davies die britische Hauptstadt von damals. Aus den vibrierend-übermütigen Party-Sequenzen schälen sich nach und nach die fünf Hauptpersonen heraus, die, wie das Leben so spielt, schließlich in einer WG zusammenfinden. Ritchie, der das Jura-Studium zugunsten der Schauspielerei aufgeben will, lernt mit Schauspielaspirantin Jill (Lydia West) eine Freundin fürs Leben kennen, die ihrerseits mit sehr unterschiedlichen, aber ausnahmslos schwulen Männern befreundet ist: dem stolz-flamboyanten Roscoe (Omari Douglas), der sein Elternhaus flieht, weil er fürchtet, dass sein religiöser Vater ihn zur „Umerziehung“ nach Nigeria zurückschicken will, und dem selbstsicheren Ash (Nathaniel Curtis), der vielleicht, vielleicht aber auch nicht, der eigentlich „Richtige“ für Ritchie wäre. In ihrer überschäumenden Fröhlichkeit lesen sie gemeinsam in einer Bar den schüchternen Waliser Colin (Callum Scott Howells) auf, der bei einem stickig-traditionsreichen Herrenschneider auf der Savile Row arbeitet. Einmal im „Pink Palace“ eingezogen, wie sie ihre heruntergekommene, aber großzügige Wohnung in Nordlondon nennen, entwickeln sie einen eigenen Gruß, ein künstlich intoniertes „La!“, das noch Jahre später als Zeichen ihrer übermütigen Verschworenheit miteinander dient.Placeholder image-1Serienschöpfer Davies, der selbst als 18-Jähriger 1981 nach London kam, setzt den Akzent am Anfang deutlich auf die 80er als ein Jahrzehnt der Freiheit und sich abzeichnenden Möglichkeiten. Aber er folgt nicht dem Erzählklischee, bei dem eine glückliche Familie am Anfang nur deshalb gezeigt wird, um der folgenden Katastrophe genug Emotion zu verleihen. Davies’ Einspruch gegen die gängigen Darstellungen der AIDS-Pandemie ist subtiler: Er hebt sowohl die „Unschuld“ seiner Helden hervor, die im Schutz der Großstadt ihre authentischen Identitäten ausleben, ebenso ihren Mut und ihre jugendliche Unerschrockenheit. Es ist aber auch genau diese Unerschrockenheit, das „Mir kann keiner was!“, das sie taub macht für die Nachrichten über die „Seuche“. Ein Virus, das nur Schwule trifft? Wie soll man an so was glauben? „Was ist mit Bisexuellen?“, fragt Ritchie in einer rasant geschnittenen Sequenz, die die „Leugner-Thesen“ von damals bündelt, „kriegen die das nur an jedem zweiten Tag?“Mich trifft das schon nichtLange gilt auch für Davies’ Helden, dass AIDS ausschließlich woanders, nicht in London stattfindet, oder wenn in London, dann nicht unter ihnen, den London Boys. Auch als dann der Erste unter ihnen krank wird, glauben sie nicht, dass es sie selbst treffen könnte. Oder doch? Gerade weil die Serie sich ganz auf die Perspektive ihrer Figuren verlässt und nicht etwa aus der Besserwisser-Rückschau von heute erzählt, gelingt es Davies darzustellen, wie verheerend die Schlagzeilen von damals wirkten: Weil sie statt aufzuklären, Abgrenzung befeuerten, selbst innerhalb der Community.Wobei Anklage gar nicht das zentrale Motiv der Serie ist. Im Gegenteil, über seine fünf ausgesprochen flotten und bei aller Tragik immer enthusiastischen Folgen hinweg bleibt It’s a Sin vor allem eins: eine Hymne auf die Freundschaft, auf Mitgefühl und Solidarität. Nicht wie Menschen ohne Angst, sondern wie sie sich trotz Angst verhalten, gibt den Ausschlag: Wenn der schüchterne Colin darauf besteht, seinen älteren Kollegen Henry im Krankenhaus zu besuchen, und dort entdeckt, dass das Personal sich nicht mehr in dessen Zimmer traut. Wenn Jill sich darauf einlässt, für den erkrankten Freund Gregory einzukaufen, aber sich nach jedem Besuch in seiner Wohnung die Haut abrubbelt, als gelte es, radioaktive Strahlung loszuwerden. Die Tasse, aus der er getrunken hat, muss sie wie zwangsgestört wegwerfen, aber Jill informiert sich weiter, wird mit jedem Fall aktiver und damit wieder angstfreier.Immer wieder erschüttern die erzählerischen Details, die die nonchalante Grausamkeit des Umgangs mit der Pandemie damals zeigen: Wie fassungslose Eltern ihre kranken Jungs „heimholen“ und im völligen Unverständnis deren Habseligkeiten verbrennen, als könne man die „Seuche“ so auslöschen. Wie ein Konsortium von Ärzten und Polizei für manche Kranke haftartige Bedingungen schuf. Wie normal das Leugnen, die Abwehr und die Unwissenheit waren. Davies gelingt dabei das Kunststück, den lebens- und lustbejahenden Ton des Anfangs nicht zu negieren, sondern ihm über die Trauerfälle hinweg sogar mehr Resonanz zu verleihen.Nichts in der Serie legt den Vergleich mit Corona nahe. Aber für den Zuschauer der Gegenwart erschließen sich die Parallelen vielfältig und von selbst. Am Ende handelt It’s a Sin weniger von AIDS und dem Kampf um Schwulenrechte als von Ignoranz, der Ignoranz von uns allen. Wie viele Menschen hat man sterben lassen, weil es einen vermeintlich nicht selbst betroffen hat?Was sich ableiten lässt für uns in Zeiten von Corona? Nicht vorschnell zu urteilen über eine Krankheit, die scheinbar nur „die anderen“ bekommen.Placeholder infobox-1