Unter den Ersten, die die Tragweite der Pandemie erkannt haben, war natürlich Stephen King. Als Autor eines Romans, in dem ein aus dem Militärlabor entwischtes Grippe-Virus in wenigen Monaten fast die ganze Menschheit ausrottet, fühlte er sich zum Beschwichtigen berufen. Corona sei, im Unterschied zu seinem fiktiven Virus in The Stand, „eminently survivable“, twitterte er im März 2020. Von den eigentlichen Konsequenzen der Pandemie begann er Anfang April im Interview zu berichten: Nun müsse er seinen fast fertig geschriebenen Roman neu anfangen! Denn der spiele 2020, was zum Zeitpunkt der Idee nichts Besonderes war, aber nun eine Bedeutung angenommen hat, die eben auch die Grundfesten der Fiktion erschüttert.
King und alle anderen: Wer in der nächsten Zeit im weitesten Sinn von der Gegenwart erzählen will, wird um Corona keinen Bogen machen können. Denn im Unterschied zu anderen prägenden Ereignissen der vergangenen Jahre, Mauerfall oder 9/11, gibt es die Option des Ignorierens nicht. Eine Figur zu erfinden, die wie Sven Regeners Herr Lehmann den Mauerfall nun die Pandemie „verpasst“, würde unweigerlich ins Surrealistische abgleiten. Die Auswirkungen des Attentats auf das World Trade Center sind in ihrer Globalität nicht zu unterschätzen, aber Corona hat den Weg bis tief in unseren Alltag gefunden, in die Schubladen, auf die Garderobenablagen, vollkommen banal, aber ubiquitär. Auf Jahre werden sie noch irgendwo herumliegen, diese Masken, und beim plötzlichen Auftauchen aus dem Unterholz der Parks und Spielplätze unwohle Gefühle bereiten. So werden es auch die Science-Fiction-Erzählungen auf einige Zeit nicht leicht haben, besonders in der Sparte „in naher Zukunft“. Denn da muss man sich bereits als Vergangenheit vorstellen, was aus heutiger Sicht noch ungewiss und unübersichtlich aussieht: Wie lang wird es noch dauern und wie wird er tatsächlich aussehen, der lange Abschied von der Pandemie?
Die Berlinale zeigte es
Was vor 2020 als eine der einfachsten Herangehensweisen für eine Erzählung galt, eine Handlung in der Gegenwart anzusiedeln, hat sich durch Corona verkompliziert. Wobei nicht das direkte Thematisieren das Problem ist – einen Film über das Leben in der Pandemie zu drehen, scheint geradezu verführerisch einfach, schließlich sind wir alle satt von Erfahrungen, wenn nicht gar Expertisen: Masken auf und los!
Viel schwieriger wird es sein, die Corona-Zeit als beiläufigen Hintergrund zu behandeln, als willentlich Vergessenes oder Verdrängtes, das trotzdem fester Bestandteil der zukünftigen Figuren-Biografien sein muss, als etwas, das da ist, auch wenn es nicht eigens thematisiert wird, dessen man überdrüssig ist, gerade weil es jeden und alle betroffen hat, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß und mit unterschiedlichen Folgen. Das Personal all unserer Arzt- und Krimiserien – wie werden die durch die Krise kommen?
Die Filme der diesjährigen Berlinale boten einen ersten Vorgeschmack darauf, wie das Kino auf den Einschnitt reagieren wird. Da gab es die eine oder andere Dystopie, die den Zerfall Europas und andere Rückschritte der Zivilisation als Handlungshintergrund imaginiert – ein kulturpessimistischer Trend, der durchaus auch schon vor Corona im Schwange war, aktuell aber auch sehr gewollt wirken kann. Es gab den einen oder anderen Film, darunter den rumänischen Hauptpreisträger Bad Luck Banging or Loony Porn, der die Drehbedingungen unter Corona-Maßnahmen ausstellte und ästhetisch und thematisch reflektierte. Und es gab all die anderen Filme, in denen Corona überhaupt keine Rolle spielte.
Nun sind Filme Projekte mit oft jahrelanger Vorlaufzeit, sodass die Mehrheit derer, die 2021 herauskommen, als Idee aus einer Zeit von lang „davor“ stammt. Was auch sein Gutes hat, denn schließlich zeichnet sich bereits deutlich ein großer Überdruss ab: Die vergangenen zwölf Monate wurde so viel über immer nur das Eine geredet, dass eine Pause durchaus wünschenswert erscheint. Aus demselben Grund gibt es auch kaum Zuschauerklagen darüber, dass bislang noch so wenig aus dem „New Normal“ auf Leinwand beziehungsweise Bildschirm Eingang gefunden hat. Wer seine Freizeit mit dem Bingen von Netflix-Serien verbringt, dem kann es passieren, dass ihn, einmal auf die Straße getreten, die Maskenpflicht in Bus und Bahn plötzlich und mit Schrecken an die Gegenwart erinnert.
Die Gegenwart der meisten Filme und Serien ist noch die alte, vertraute, und eigentlich ist es erstaunlich, wie gut man die Dissonanz zur eigenen gelebten Gegenwart verträgt und wegsteckt. Fast gehört der Bruch zur Identität der Zeitgenossenschaft: hier die eigene Existenz mit Maskentragen, geschlossenen Kneipen und Zoomkonferenzen, dort, in den Spielfilmen und Serien, Menschen, die Restaurants besuchen und sich mit freiem Gesicht und sichtbarem Lächeln durch die Gegend bewegen.
Wird es Forderungen nach dem einen Roman, dem einen Film „zu Corona“ geben, so wie es das zum Thema „Wiedervereinigung“ oder „9/11“ gab? Zu letzterem kam in der ersten Zeit nach 2001 gefühlt zu jedem Jahrestag mindestens einer der sogenannten „Omnibusfilme“ heraus: verschiedene Regisseure, die, von einem findigen Produzenten zusammengetrommelt, je einen Kurzfilm zum Thema drehten. Die einzelnen der so entstandenen Werke waren oft überraschend eigenwillig und originell, nur wenn man sie zusammen sehen musste, wiederholten sie sich und führten zur Ermüdung. Ein ähnliches Projekt gab es mit dem Kompilationsfilm Homemade bereits im Juli vergangenen Jahres auf Netflix: 19 Regisseure erzählten in 17 Episoden von Lockdown-Erfahrungen rund um die Welt. Als Zeitzeugnis war das so sehr Momentaufnahme – dass der Film heute antiquierter scheint als, sagen wir, Marco Kreuzpaintners in der Berliner Clubszene angesiedelte Amazon-Serie Beat von 2018.
Die Projektankündigungen „zu Corona“ füllen bereits den Newsfeed der Medienbranche; ohne Frage wird es in den nächsten Jahren immer wieder Filme und Serien über das Jahr 2020 und seine Folgen geben. Aber viel spannender wird es sein, in den Erzählungen, die nicht explizit von Corona handeln, nach dem Grad der Verdrängung zu suchen. Sehr gut vorstellbar scheint nämlich, dass die vermeintliche Gegenwart aus den Projekten, die „davor“ erdacht wurden, wie nahtlos übergeht in den bevorzugten Modus eines Danachs, das von den lästigen Komplikationen der Pandemie nichts mehr wissen will.
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