Mehr Licht, mehr Licht!

Biopic Mike Leigh zeichnet in „Mr. Turner“ eine detailreiche Biografie des großen englischen Malers Joseph Mallord William Turner
Ausgabe 45/2014
„Die Sonne ist Gott!“: Timothy Spall als William Turner
„Die Sonne ist Gott!“: Timothy Spall als William Turner

Foto: Prokino Filmverleih GmbH

Nichts belastet dieses Genre mehr als der Zwang zur Ähnlichkeit. Weshalb es Biopics über Leute, deren Auftreten und äußere Erscheinung nicht von Fernsehkameras oder Paparazzifotos dokumentiert sind, gleich viel leichter haben. Nein, wir wissen nicht, ob Joseph Mallord William Turner, einer der größten englischen Maler des 19. Jahrhunderts, sich mit seiner Umgebung wirklich zumeist durch Grunzen verständigt hat.

Mag sein, dass Regisseur Mike Leigh, der auch das Drehbuch für Mr. Turner – Meister des Lichts schrieb, einen Beleg dafür im Bericht von Zeitgenossen gefunden hat. Selbst dann wäre die beständig grummelnde, ihr Gesicht verziehende und eben grunzende Malerfigur, die der Schauspieler Timothy Spall auf der Leinwand so meisterhaft lebendig werden lässt, mehr Erfindung denn Imitation. Und diese Lust am Erfinden im Gegensatz zum pflichtschuldigen Nachahmen verleiht Mr. Turner – anders als das Etikett „Biopic über einen berühmten Maler der Romantik“ vermuten lässt – eine beschwingende Leichtigkeit.

Der Film beginnt in den 1820er Jahren. Der 1775 geborene J. M. W. Turner ist längst ein anerkannter Meister seines Fachs. Die ersten Szenen zeigen ihn beim Skizzenzeichnen in der flachen Landschaft Belgiens. Für einen Moment nimmt der Film die Perspektive eines der berühmten Gemälde Turners ein, und als Kinozuschauer glaubt man sogleich, ein Strukturprinzip erkannt zu haben: Wird der Film die Entstehung der Greatest Hits nachverfolgen?

Es kommt anders. Mit der Rückkehr Turners nach London taucht man ein in den geschäftigen Alltag des Manns: Die Werkstatt muss unterhalten, Farben müssen besorgt und Bilder verkauft werden. Zwischendurch gilt es, den eigenen Rang unter seinesgleichen zu behaupten, in Auseinandersetzungen in der Akademie und in Gesprächen mit dem aufkommenden Berufsstand der Kritiker. Und dann wäre da noch der Umgang mit all denen, die etwas von ihm wollen, sei es finanzielle Unterstützung oder Zuwendung anderer Art.

Über weite Strecken könnte man denken, dass der social realist Mike Leigh mit seinem Film auf die These abzielt, dass für einen Maler vom Rang Turners Kunst mehr mit Handwerk zu tun hat als mit Kreation. Doch dann entwickelt sich als Motiv der letzten Lebensjahre Turners das Gegenteil: Die Besessenheit vom Thema Licht führt den Künstler von der repräsentativen Malerei weg hin zu abstrakten, den Impressionismus vorausahnenden Darstellungen. „Turner verliert sein Augenlicht“, heißt es nun mit Befremden über Bilder, auf denen Konturen verschwimmen. Er selbst nimmt es mit weiterem Grunzen hin.

Die ehemalige Geliebte

Die Werks- und Rezeptionsgeschichte ist nicht das Einzige, wovon Leigh in sorgfältig komponierten Szenenfolgen erzählt. Er zeigt auch das innige Verhältnis, das Turner mit seinem Vater (Paul Jesson) unterhält, der ihm zugleich die Werkstatt führt. So freudig-herzlich wie diese beiden hat man selten ein Vater-Sohn-Paar sich begrüßen sehen: Zwei Männer, der eine alt, der andere älter, beide dicklich und eher ungepflegt, küssen sich zum Wiedersehen. Es ist ein Szene, die so vielschichtig ist wie ein Ölgemälde: ein wenig grotesk, fast komisch und doch voller Wärme und Ehrlichkeit.

Sie steht damit im Kontrast zu anderen Momenten aus Turners Leben: den lieblos scheinenden, rüden Sexakten mit der Haushälterin (Dorothy Atkinson) etwa oder der ignorante, abweisende Umgang mit einer ehemaligen Geliebten und dem gemeinsamen Nachwuchs. Dann wieder zeigt sich Turner gegenüber einer Pensionswirtin im Seeort Margate als zartfühlender, ja romantischer Liebeswerber.

Detail fügt sich an Detail, eine Farbschicht überlagert die andere: Mr. Turner erweist sich als ein Film, der seine historische Figur weniger festnageln will, als dass er dem Zuschauer anbietet, sie zu entdecken. Mit dem Zwang zur Nachahmung hat sich Mike Leigh auch des zweiten, schwer zu Boden ziehenden Gewichts des Biopics entledigt, dem Zwang zur psychologischen Interpretation. Warum Turner malt, wie er malt, und liebt, wie er liebt – darauf gibt Leigh keine der im Genre üblichen anekdotischen Antworten. So verschlossen, grummelig und unartikuliert das Auftreten der Hauptfigur, so offen und luftig ist der Film als solcher. Als ob Leigh statt vor eben hinter der Kamera seinen Meistermaler imitierte: sich hinstellen und schauen, was es zu sehen gibt.

Mr. Turner – Meister des Lichts Mike Leigh Großbritannien 2014, 150 Minuten

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Geschrieben von

Barbara Schweizerhof

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Film“ (Freie Mitarbeiterin)

Barbara Schweizerhof studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und arbeite nach dem Studium als freie Autorin zum Thema Film und Osteuropa. Von 2000-2007 war sie Kulturredakteurin des Freitag, wechselte im Anschluss zur Monatszeitschrift epd Film und verantwortet seit 2018 erneut die Film- und Streamingseiten im Freitag.

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