Es ist gewissermaßen die Urszene der Höhlenforschung: Man wirft einen Stein in die Tiefe und wartet gespannt darauf, dass man ihn aufschlagen hört. Und was, wenn kein Aufschlagen ertönt? Sofort entsteht ein echtes Mysterium, ein Rätselraten über die Natur, das auch mit tief sitzenden menschlichen Ängsten spielt. Wurde der Stein vielleicht doch im buchstäblichen Sinn verschluckt? Man kann sich der Suggestion nur schwer entziehen. So berührt die Höhlenforschung als Wissenschaft etwas sehr Archaisches im Menschen. Wenn der italienische Regisseur Michelangelo Frammartino (der mit seinem Film Vier Leben 2010 von sich reden machte) in semidokumentarischen Bildern die italienische 60er-Jahre-Expedition in den Abisso del Bifurto in Kalabrien nachst
brien nachstellt, kommt es ihm auf solche Effekte des Nachhallens an.Von Anfang an setzt Frammartino Höhe und Tiefe in eine Art Dialog. Das erste Bild zeigt einen Ausblick aus dem Abisso heraus. Man sieht die Gräser am Rand, Berge am Horizont und den Himmel darüber. Man hört auch ein paar Ziegen, sieht bald ihre Köpfe im Gegenlicht. Die nächsten Szenen aber bringen scheinbar Disparates zusammen: Da gibt es einen alten Hirten, der vom Hang auf das Tal mit dem Felsspalt in der Mitte hinabblickt und mit melodiösen Lauten seine Tiere ruft. Man sieht, wie sich nächtens in einem Bergdorf eine kleine Menschenmenge vor einem im Freien aufgestellten Fernsehgerät versammelt.Darin laufen die Archivbilder einer Erstbesteigung – nicht eines Berges, sondern eines Wolkenkratzers. Im enthusiasmierten Ton einer Fortschrittsgläubigkeit, wie es sie zu Beginn der 60er Jahre noch gab, beschwört ein italienischer TV-Reporter die Wunder des Pirelli-Hochhauses in Mailand, während er mit einem Kamerateam in einer Hubarbeitsbühne an dessen Fassade entlang hochfährt.Das Pirelli-Hochhaus gilt als Symbol des italienischen Wirtschaftswunders, ein „Wunder“, das den Süden Italiens nie ganz erreicht hat. Die Diskrepanz drückt sich unter anderem in der Anmerkung aus, die Frammartino seinem Höhlengleichnis voranstellt: Die speläologische Gruppe aus dem Piemont, die sich 1961 aufmachte, den Abisso zu erkunden, war die erste ihrer Art. So weit in den Süden habe sich noch keine italienische Höhlenforschung vorgewagt.Die Gegensätze von Norden und Süden, von Industrie- und Agrarwirtschaft, von naturwissenschaftlicher Forschung und naturverbundener Intuition spielen in Il Buco eine Rolle, ohne dass sie als solche extra benannt oder ausgesprochen werden müssen. Vielmehr erzählt der Film ohne Dialoge, nur in szenischen Tableaus, von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: dort junge Studenten, die mit Energie und Abenteuerlust die Tiefe erforschen, hier ein alter Hirte, der sie manchmal von oben beobachtet, während er seine Ziegen hütet. Nach und nach verwickelt der Film seine Zuschauer und Zuschauerinnen in ein philosophisches Mäandern zu ganz verschiedenen Fragen, die noch nicht einmal direkt an das Gesehene anschließen müssen.Darin liegt das Faszinierende an diesem Höhlengleichnis: Auf den ersten Blick kommt der Film bescheiden als Quasi-Dokumentation über eine Höhlenexpedition aus dem Jahr 1961 daher. Aber sowohl das Dokumentarische als auch die Bescheidenheit erweisen sich als gewollte Täuschung.Kollektiv statt IndividuumDie Höhlenszenen wirken mit ihrer Lichtsetzung oft wie magisch und sind beeindruckende Zeugnisse von Kameraarbeit unter widrigsten Bedingungen. Wenn Frammartino seine Geologen aus den frühen 60ern mit ihrer altmodischen Ausrüstung, ihren Stoffrucksäcken und Militärzelten und ihren nicht elektrischen Grubenlampen zeigt, beleiht er nur den Gestus des Dokumentarischen. Sind es doch allesamt Schauspieler und Schauspielerinnen, die hier die kontraintuitive Aufgabe haben, nicht als solche erkennbar zu sein. Die fröhlichen Gruppenszenen mit ihnen am Lagerfeuer sind alten Fotoalben nachgebildet, sie evozieren Anekdoten von Kameraderie und Freundschaft, das alles, ohne dass die Kamera je auf ein einzelnes Gesicht einzoomen würde. Im Vordergrund steht das Kollektive, nicht das Individuum.Eingebetteter MedieninhaltGenau deshalb funktioniert der Kontrast zu den Sequenzen mit dem Berghirten so gut. In sein faltiges Gesicht vertieft sich die Kamera regelrecht. Sein Blick hinab ins Tal, auf das Zeltlager der Expedition und den Eingang des Abisso, regt immer wieder dazu an, die Gedanken schweifen zu lassen und die Aufnahmen aus der Tiefe mit anderen, weiteren Dingen zu verbinden. Das, was der Höhlenforschung im Gegensatz zum Bergsteigen oft abgeht, jener finale Triumph des Zielerreichens, kompenisert der Film so durch den Reichtum der Gedanken.Placeholder infobox-1