Im Grunde hat man sie sich immer so vorgestellt, die wahre, bereichernde Kultur im Gegensatz zur falschen, konsumistischen, der Ursache geistiger Armut: Menschen, die ihr Tagwerk in der Fabrik verbringen und sich in ihrer Freizeit künstlerisch beschäftigen; Arbeiter, die filmen und fotografieren, Erzählungen und Gedichte schreiben.
Chris Wright und Stefan Kolbe haben sich für ihr Debüt Technik des Glücks zum stillgelegten Kraftwerk Zschornewitz begeben, um die Sprengung eines der Türme aufzunehmen; dort trafen sie dann auf einen Hobbyfilmer, der das gleiche tat. Durch diese Bekanntschaft erhielten sie schließlich Einblicke in diverse Privatarchive der ehemaligen Kraftwerks-Arbeiter: Manuskripte, Tonbänder, Super-Acht und Videokassetten, in denen diese sich als Chronisten ihres eigenen Lebens betätigen oder anderweitig kreative Überschussenergie umsetzen. Technik des Glücks schneidet die Stationen dieser Entdeckungsreise spielerisch mit ausgewählten Stellen aus der found footage zusammen und gerät so zur melancholischen Reflexion über den Zusammenhang von Arbeits- und Kulturtechniken. Die Autoren montieren ihr Material zwar nicht ohne Ironie, aber doch frei von jener Camp-Haltung, die an der Ostalgie-Welle so unangenehm hervortritt. Statt dem hämischen Spaß am Scheitern der kulturellen Anstrengungen überwiegt in Technik des Glücks ein gewisser ethnografischer Ernst, ein authentisches Interesse, das mit liebevollem Respekt zu Tage fördert, wie sich um das unwirtliche, hässliche Kraftwerk in den Bemühungen seiner Arbeiter doch ein kleines Stück Utopie rankte und sogar verwirklichte. Stillgelegte Industrieanlagen sieht man nach diesem Film auf jeden Fall mit anderen Augen.
Im Vergleich der Kulturtechniken begreift sich der Dokumentarfilm als das Gegenteil von Fernsehen oder auch als dessen zwar immer weiter verdrängtes, aber um so wichtigeres Ideal. Die meisten Zuschauer jedoch dürften das Genre vor allem aus dem Fernsehen kennen: Zum Beispiel in Gestalt der Dokumentationen von Eberhard Fechner, der mit Der Prozess und den Comedian Harmonists Fernsehgeschichte geschrieben hat. Er allein? - fragten sich Sara Fruchtmann und Konstanze Radziwill ganz im Brechtschen Sinne und besuchten Fechners Cutterin Brigitte Kirsche. Von ihr lassen sie sich vor der Kamera die Geschichte ihrer Arbeitstechniken erklären und heraus kommt, dass Fechners Handschrift und seine Schule machenden Erzähltechniken zum großen Teil auf Erfindungen der Cutterin zurückgehen. Doch nicht nur die Korrektur einer Autorschaft macht einen Film wie Schnitt - Der Regisseur und die Cutterin sehenswert, er schärft darüber hinaus ungemein den Blick für den "fiktionalen" Anteil von Dokumentationen, für deren "Gemachtheit" und die damit einhergehenden Autoren-Absichten.
Im israelischen Film Leben für Land zum Beispiel erahnt man schnell, dass die Regisseurin auf eine bestimmte Entwicklung ihrer Hauptfigur setzt: Die junge Adi Dribben gehört zu jener Sorte radikaler jüdischer Siedler, die mitten in palästinensischem Gebiet auf ihr Bleiberecht pochen. Vor kurzem wurde ihr Mann von einem Palästinenser erschossen. Während ihre Verwandten und Nachbarn ihn nun zum Märtyrer machen und zur Symbolfigur ihres Kampfes aufbauen, beginnt Adi sich zurückzuziehen. Ihr privater Schmerz entfremdet sie von der Siedler-Ideologie. Wenn die Räumung der palästinensischen Gebiete Leben retten könnte, wäre sie bereit dazu, ringt sie sich schließlich als Zugeständnis vor der Kamera ab. Sie verlässt die Siedlung, aber weniger aus politischen als ganz individuellen Motiven - da ist der allzu autoritäre Schwiegervater und vor allem die zwei Söhne, die unter der Situation leiden. Tamar Wishnitzer-Haviv gelingt es in ihrem Film, eine langsam einsetzende, unterschwellige Bewusstseinsänderung einzufangen, die sich jedoch im nächsten - unbeobachteten - Moment schon wieder in eine andere Richtung wenden kann. Man, in diesem Fall Zuschauer und Regisseurin, wünscht sich ein versöhnliches Ende, aber die Wirklichkeit tut einem nun mal keinen Gefallen.
Eine fast klassisch zu nennende Absicht verfolgt dagegen der Kambodschaner Rithy Panh mit seinem Film S21 - Die Todesmaschine der Roten Khmer: Vergangenheitsbewältigung. Über Jahre hinweg hat der Autor versucht, aussagebereite Opfer und Täter zu finden und sie am Ort des Geschehens, dem Folterzentrum in Phnom Penh zusammen zu bringen. Vor der Kamera rekonstruieren sie den schrecklichen Alltag von damals, die einen erzählen, die anderen spielen ihre Routinehandlungen von damals nach, zeigen, was wie und an welcher Stelle vor sich ging. Auch die Täter sehen sich hier als Opfer. Was sind dann wir?, halten ihnen die Opfer entgegen. Die Kamera scheint nur aufzuzeichnen, die große emotionale Spannung des Films entsteht ganz aus dem Bestreben nach wahrhaftiger Erinnerung, das beide Seiten teilen. Über diesen erschütternden Erinnerungsprozess vergisst man schließlich das Nachdenken über die Machart ganz. Auch die Juroren zeigten sich beeindruckt: S21 wurde mit der goldenen Taube ausgezeichnet.
Was man vor der Dok-Kamera alles zur Darstellung bringen kann, wenn man mit ausreichend Mut und Inspiration loszieht, zeigte auch die Bulgarin Adele Peeva mit ihrem Film Wem gehört das Lied? Ausgehend von einem Abendessen in Istanbul, macht die Autorin sich auf die Suche nach der Herkunft eines bestimmten, auf dem gesamten Balkan ungeheuer populären Lieds. Ob Türken, Mazedonier, Albaner, Serben oder Bosnier, alle bestehen darauf, dass dieses Lied seinen Ursprung in ihrem Land hat und das ihr jeweiliger Text der Originaltext sei. Was humoristisch und versöhnlich beginnt - heißt es nicht: Böse Menschen kennen keine Lieder? - wird immer mehr zu einer Groteske, in der sich der ganze Ernst der Auseinandersetzungen auf dem Balkan gespiegelt findet. Als die Regisseurin in einer serbischen Kneipe die bosnische Version des Liedes vorspielt, lacht schließlich niemand mehr und bei einem bulgarischen Volksfest droht man ihr, sie am nächsten Baum aufzuhängen, wenn sie noch länger Zweifel sät am rein bulgarischen Ursprung des Liedes ... Brechts Feststellung, dass das Volk nicht tümlich sei, sieht man hier sich vor laufender Kamera bewahrheiten.
Ein anderes Terrain, das jedoch nicht weniger als der Balkan täglich unsere Nachrichten bestimmt, erforschte Lutz Dammbeck mit seinem Film Das Netz, der zu den interessantesten des Wettbewerbs gehörte. Dammbeck geht es um die Querverbindungen und Gleichzeitigkeiten von Technik-Feindlichkeit und deren Lobpreisung, von Kunst, Terror, Erziehung und höherer Mathematik. In Interviews und Netzrecherchen (!) zieht er Verbindungslinien von der modernen Kunst zum Vorläufer des Internets, dem "Arpanet", vom Wiener Kreis und Wittgenstein zum Unabomber, von Adorno und den Studien über den autoritären Charakter zum Erfinder der Assessment-Zentren. Netzartig hängt in Dammbecks Film alles mit allem zusammen - das Ziel der Erforschung ist zugleich seine Methode. Die Transparenz der Machart sorgt dafür, dass sich die angesprochenen Thesen nie zur Verschwörungstheorie verdichten. Das Netz ist deshalb alles andere als eine Geschichte des Internets, und auch weniger eine Abhandlung über die Identität des Unabombers - obwohl er zu beiden Themen viel Material bietet -, sondern vor allem ein Film über die Eigentümlichkeit des dezentralen Denkens selbst. Obwohl auch Dammbeck einer Vergangenheit nachspürt, handelt sein Film von der Kulturtechnik der Zukunft. Wer weiß, in zwanzig Jahren werden nicht mehr Hobbyfilme Auskunft über unsere Alltagskultur geben, sondern die Festplatten unserer Computer.
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