Seit ihrem Film Romance aus dem Jahr 1999 haftet Catherine Breillat in gewisser Weise der Ruf einer Skandalregisseurin an. Die Geschichte einer jungen Frau, die, von ihrem Freund sexuell vernachlässigt, sich von einem anderen genussvoll fesseln und knebeln lässt, empfanden viele als schockierend - in erster Linie wegen der anatomischen Deutlichkeit, mit der Breillat den Film in Szene setzte. Nackte Körperteile, egal welchen Geschlechts, vermögen heutzutage jedoch alleine für keinen Skandal mehr zu sorgen. Was Romance so verstörend machte, wurde vielleicht erst auf den zweiten Blick spürbar: Es war weniger die nackte Ausführlichkeit und der Einsatz eines veritablen Porno-Stars in einer männlichen Nebenrolle als vielmehr der unterkühlte Umgang mit dem Thema, der Breillats Film den Charakter einer abstrakten Abhandlung zur weiblichen Sexualität und deren filmischer Darstellung zugleich verlieh.
Im Kontext eines weiteren Skandalfilms, Baise-moi, gegen dessen Einstufung als Pornografie sich Breillat einsetzte, entfaltete sich damals eine Debatte über die Definition von Pornografie und die Anstandsgrenzen des filmisch Darstellbaren, hinter der das wirklich Ungewöhnliche an Breillats Film zu verschwinden drohte. In Romance gelang ihr nämlich das Kunststück, weibliches Begehren zu zeigen, ohne den weiblichen Körper als voyeuristisches Objekt feil zu bieten und ohne die Frauen auf die Rolle des leidenden Opfers männlicher Sexualität zu reduzieren.
Es sei gleich vorausgeschickt, dass Meine Schwester in Bezug auf die Pornodebatte nun nichts Neues beiträgt. "Ich zeige sexuelle Probleme, keinen Sex", hört man die einstige Pasolini-Schauspielerin Laura Betti an einer Stelle im Film in einer alten Fernsehaufzeichnung auf die Frage antworten, ob manche Menschen sich ihre Stücke nicht auch ansehen würden, um sich "ein wenig aufzuheizen". Man kann das getrost als Breillats eigene Antwort auf eine ihr viel gestellte Frage verstehen.
Meine Schwester handelt von der Auseinandersetzung zwischen zwei ungleichen Schwestern, Elena (15) und Anais (13), über die Frage, ob man "das erste Mal" besser mit oder ohne "Liebe" hinter sich bringt. Schon darin offenbart sich eine charakteristische Verschiebung gegenüber den gängigen Filmen über Teenager, die für junge Frauen nur den Konflikt des Geliebt-Werden-Wollens kennen: Meine Schwester zeigt die Mädchen mit einem sexuellen Erfahrungshunger, wie er sonst nur Jungs zugestanden wird.
Der Film hält sich in großen Teilen an die Perspektive der jüngeren der Schwestern, Anais. Im Gegensatz zu Elena ist Anais kein besonders ansehnlicher Teenager: Sie ist dick und eigensinnig. Die mahnenden Worte der Eltern, sich doch weniger Nachtisch auf den Teller zu laden, ignoriert sie einfach; die Lieder, die sie vor sich hin trällert, handeln von finsteren Dingen; im Streit mit der Schwester legt sie mit ihren Argumenten gegen die "Liebe" fast sophistische Qualitäten an den Tag. Obwohl sie in vielen Szenen als lästiges Anhängsel ihrer schönen älteren Schwester auftritt, bewahrt sie sich eine trotzige Würde - ihre "dicke Haut", auch das zeigt der Film, schützt sie nämlich auch vor Verletzungen, denen die bei den Jungs so viel erfolgreichere Elena nicht entkommen kann.
In der Schlüsselszene des Films liegt Elena mit ihrer italienischen Ferienbekanntschaft im Mädchenzimmer, während Anais sich im Bett daneben schlafend stellt. Zusammen mit der 13-Jährigen wird der Zuschauer zum Zeugen eines fast endlosen Gerangels zwischen der "unschuldigen" Elena und ihrem erfahreneren Freund. Mit geübter Rhetorik ("Wenn du mich liebst ..."), die er mit sportlichem Erfindungsgeist anzuwenden weiß, wirbt dieser um körperliche Zugeständnisse, während Elena nur zögerlich das Territorium frei gibt und sich abzusichern sucht ("Liebst du mich?"). Hinter den Worten offenbaren sich die eigentlichen Interessen: Die Eroberungslust des Freundes, aber auch Elenas Neugier und ihr Stolz darauf, so "weit" zu sein. Was an Breillats Film ganz besonders deutlich wird, ist die spezifisch soziale Dimension weiblicher Sexualität: Wer wie davon erfahren und was im Anschluss darüber denken könnte, sind Überlegungen, die für Elena beim "ersten Mal" ganz im Vordergrund stehen. Die Gefühle von Scham und Peinlichkeit inszeniert Breillat als integralen Bestandteil der Erlebniswelt ihrer jugendlichen Heldinnen, zu der auch die krude Gefühls-Melange gehört, in der am Ende eine überforderte Mutter, die eifersüchtige Anais und eine verletzte und gedemütigte Elena die überstürzte Heimreise antreten.
Auf dieses Ende folgt in Breillats Film noch ein überraschend gewalttätiger Schluss, der von Vielen als unpassend empfunden wurde. Was immer man davon halten mag, unterstreicht er doch die anhaltende Absicht der Regisseurin, den Zuschauer nicht in bequemen Haltungen ausruhen zu lassen, sondern ihn nachhaltig zu verstören: sowohl über die Darstellung als auch das Dargestellte. Ihr nächster Film, Sex is comedy, handelt übrigens von einer Regisseurin, die an der Inszenierung einer Sex-Szene mit jugendlichen Darstellern arbeitet.
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