Nennen Sie mich Elizabeth!

Filmfestspiele Venedig Die Queen als Liebling der Kritik, ein Programm voll böser Zwillinge und China als Schreckensvorbild einer übereilten Modernisierung

Es klingt eigentlich nicht nach einer guten Idee: Einen Film zu machen über die zähen Verhandlungen zwischen Königin Elizabeth II. und dem frisch gewählten Tony Blair in den Tagen nach Dianas tragischem Unfalltod. Im besten Fall, so dachte man, könnte eine beißende Satire herauskommen, in der das mangelnde Glamour-Talent der britischen Monarchin belächelt und Tony Blair als Pseudolinker entlarvt wird. Im schlimmsten, also dem Normalfall, wäre eine weitere Seifenoper zu überstehen. Aber dann gelang Stephen Frears die große Überraschung: Sein Film The Queen entpuppte sich als das rare filmische Juwel, das das gesamte Festival von Venedig überstrahlte. Und zwar mit heiterer Gelassenheit, denn entgegen allen Erwartungen kommt in The Queen das Affirmative und das Kritische zusammen, die Komödie und das Drama, beste Unterhaltung und eine kluge Analyse der Wichtigkeit von Institutionen und Umgangsformen.

Der Film setzt unmittelbar nach Tony Blairs strahlendem Wahlsieg ein. Der jüngste aller englischen Premierminister wird zum Antrittsbesuch erwartet; die Queen (Helen Mirren) erkundigt sich nach dem "Modernisierer". Man erzählt ihr von der Amerika-inspirierten Lockerung der Umgangsformen. "Er wird doch nicht mit ›Nennen Sie mich Tony‹ hier ankommen! Sollen wir ihm eine Kopie des Protokolls zukommen lassen?", fragt sie süffisant. Aber Tony (Michael Sheen) ist von der Komplexität der monarchischen Kommunikation schon eingeschüchtert genug: Verbeugung, auf die Knie gehen, Handkuss; da kann man viel falsch machen. Im Lauf des Films zeigt sich jedoch, dass dieses Instrument der Machtsicherung, die Verhinderung der direkten, lockeren Ansprache, im aktuellen Fall der Königin zum Nachteil gereicht. Denn während in der Woche nach Dianas Tod, als das Königshaus keinen Halbmast setzte und auch sonst nicht reagieren wollte, Blair mit seiner Rede von der "Königin der Herzen" beim Volk triumphieren kann, sinkt die Beliebtheit der Monarchin in bislang nie erlebte Tiefen. Und Tony kriegt sie für seine Vorschläge kaum ans Telefon.

Frears Film zeigt Blairs Engagement für die richtige Form des Umgangs mit dem präzedenzlosen Vorfall der kollektiven Trauerhysterie in verblüffend positivem Licht. Gleichzeitig ist dieser strahlenden Beginner eine ätzende Kritik am früh ergrauten Bush-Freund von heute. Der Sache nach behält zwar Tony Recht, doch die Queen ist es, die die Herzen der Filmzuschauer erobert als Persönlichkeit mit starken Überzeugungen, die sie einerseits starr erscheinen lassen, andererseits Bewunderung hervorrufen. Und nie war ihre Würde größer, als wenn sie schließlich den persönlichen Stolz hintanstellt und einschwenkt auf die Linie des Modernisierers mit seinen flotten Umgangsformen. Aber ganz bestimmt wird sie ihn nie "Tony" nennen.

The Queen war so klar der Favorit von Publikum und Kritik, dass ebenso klar war, dass er den Hauptpreis, den Goldenen Löwen, doch nicht bekommen würde - keine Jury macht sich gerne mit Publikum oder Kritik gemein und schon gar nicht mit beiden zugleich. Die Lösung, die die von Catherine Deneuve angeführte Jury schließlich fand, verrät aber neben dem Wunsch sich abzuheben auch bestes Urteilsvermögen: Der Film verdankt sein Glück der umjubelten Helen Mirren, die dafür den Darstellerpreis bekam, und einem herausragenden Drehbuch, für das Peter Morgan verdientermaßen ausgezeichnet wurde.

Thematisch gab es im Programm von Venedig eine schöne Entsprechung zu The Queen: The Devil Wears Prada. In der ansonsten flachen amerikanischen Komödie führt Meryl Streep eine Art Karikatur der Monarchin vor. Ihr Imperium ist zwar "nur" ein Modemagazin, aber ihre Macht sichert sie ganz ähnlich wie die Queen mittels ausgetüftelter Kommunikationsrituale, zu deren Raffinesse es gehört, dass nicht jeder sie kennt: Das Wissen darüber nämlich verleiht schon Macht. Egal ob es sich um historische Übungen wie Knicks und Diener handelt oder höchst gegenwärtige wie das Cafe-Latte-Holen bei Starbucks.

The Queen war auch deshalb der zentrale Film des diesjährigen Festivals, weil sich in ihm auf fast wundersame Weise alle Themen des Festivals spiegelten: Da war zum einen die offensichtliche Verbindung zu all den "von wahren Geschehnissen" inspirierten Filmen, die vom 11. September über nie geklärte Hollywoodmorde bis zum Attentat an Robert Kennedy reichten. Und zum andern die sich eher unterschwellig abzeichnende Verbindung zur Auseinandersetzung mit dem Thema der Desintegration von Gesellschaften durch übereilte Modernisierung, von dem vor allem die chinesischen Filme, allen voran der Hauptpreisträger Still Life von Jia Zhang-Ke Zeugnis ablegten. Und daneben gab es noch diese merkwürdig das Programm prägende Doppelungen: Fast jedem Film kam eine Entsprechung zu, eine Art böser Zwilling. So wurde Brian de Palmas Black Dahlia von Allen Coulters Hollywoodland ausgestochen, der mit weniger Dekors, aber dem engagierteren Schauspiel den wahren depressiven Charme der Noir-Epoche entwickelte. Amerikas Katastrophen-Kompetenz wurde von Spike Lees vierstündigem Dokumentation zu den Folgen des Dammbruchs in New Orleans When the levees broke in Frage gestellt, während Oliver Stone mit seinem World Trade Center sie zum Denkmal erheben wollte. In manchen Fällen war der Zwilling auch abwesend: Infamous zeigt die gleiche Geschichte wie der preisüberhäufte Capote aus dem letzten Jahr, nur unterhaltsamer, differenzierter und weniger anti-intellktuell. Und der älteste aller aktiven Regisseure, der 98-jährige Manoel de Oliveira schrieb mit Belle toujours einen Venedigpreisträgerfilm von vor 40 Jahren fort, Bunuels Belle du Jour, und das auf so freche, knappe und doch melancholische Weise, wie es wohl nur die Gnade der frühen Geburt erlaubt.

Einer der merkwürdigsten Dopplungen fand sich mit Gianni Amelios La stella che non c´e und dem Preisträgerfilm Still life zusammen. In beiden Filmen irren Menschen auf der Suche nach anderen Menschen in der Gegend des großen chinesischen Staudammprojekts umher. Bei Amelio finden sie sich, bei Jia Zhang-Ke verfehlen sie sich. Entscheidender aber ist der Stimmungsunterschied. Niemand kann so sympathisch wie Sergio Castellito die tiefe Ratlosigkeit angesichts der sich schnell verändernden Welt in seinem Gesicht spiegeln, aber leider macht sein Regisseur Amelio daraus nur Alltagskitsch. Jia Zhang-kes Film dagegen ist bei aller Lakonie von beängstigender Skepsis.

Dass dieser Skepsis der Vorzug vor dem affirmativ-kritischen Esprit von The Queen gegeben wurde, ist so enttäuschend wie bezeichnend. Schließlich handelt Still life von der rasanten Entwicklung in China, die mit ihrer schieren Gewalt den Rest der Welt beeindruckt und ängstigt. Besonders in Venedig, im Herzen des alten Europa, bekannt für seine Schönheit und seine dichte Verflechtung von Kapitalismus und Kunst, löst die Abrisswut Chinas faszinierten Schrecken aus.

Die Geschichte des Films - ein Mann sucht seine Tochter und eine Frau ihren Mann, von dem sie sich endlich scheiden lassen will - muss sich der Zuschauer zum größten Teil selbst erschließen. In meist starren Einstellungen reiht sich Alltagsszene an Alltagszene, ohne dass ein Geschehen voran getrieben würde. Doch in diesen wortlosen Bildern hält der Regisseur den Zerfallsprozess effektiver fest als jeder Kommentar das könnte. Trotzdem lässt sich auch darin eine Auseinandersetzung erkennen, die nicht nur in Venedig seit Jahren schwelt: das relativ stumme asiatische Kino steht gegen das redselige westliche Kino. Kunstliebhaber halten das Bild für wertvoller als die geschliffene Rede, aber nicht jeder kann so meisterhaft mit Sprachlosigkeit umgehen wie Tsai-Ming Liang in seinem viel beachteten I don´t want to sleep alone. Und wie gerne würde man einmal eine chinesische Komödie sehen, in der sich die Figuren mit scharfsinnigen Bemerkungen statt mit Schweigen überbieten.

In Nuovomondo, dem letzten Beitrag des diesjährigen Wettbewerbs, den die Jury eigens mit einem "Entdeckungslöwen" bedachte, werden die Helden auf der Überfahrt nach Amerika immer eloquenter. Das ist wichtiger Bestandteil jenes Transitionsakts, auf den sich der italienische Regisseur Emanuele Crialese in seinem Film konzentriert. Zu Beginn reden die sizilianischen Bauern einen archaischer Dialekt und führen ein von Aberglauben bestimmtes Leben. Auf dem Schiff beginnt die Veränderung, zusätzlich stimuliert durch das Erscheinen einer geheimnisvollen Frau (Charlotte Gainsbourg), die mit dem Zuschauer auch die Bauern verzaubert. Der erste Teil des Films ist von archaischer Tragik, der zweite, die Schiffsfahrt, romantisch und im letzten Teil, der Ankunft auf Ellis Island läuft er zu ironischen Höhenflügen auf: Wie hier sizilianische Bauernschläue auf amerikanischen Intelligenz-Test-Starrsinn trifft, führte in Venedig zu Szenenapplaus.

"Wer seid ihr, dass ihr gottgleich glaubt darüber entscheiden zu dürfen, wer in eure neue Welt passt!" verweigert die alte Mutter am Ende alle Tests und wird prompt abgewiesen. Da hat ihr Sohn sich bereits unwiederbringlich der neuen Welt und ihren Umgangsformen zugewandt.

Auch für Nuovomondo gab es eine Entsprechung im Pogramm, ein Film, der diese Beobachtungen der Verwandlung zum neuen Menschen ergänzte und zuspitzte. Für Pasolini prossimo nostro hat Giuseppe Bertolucci Pasolini-Interviews zusammen getragen und dabei ein Dokument kreiert, das nicht nur wegen der Eindringlichkeit von Pasolinis Stimme beeindruckt, sondern vor allem durch dessen messerscharfes, ideologiefreies Denken. Bitter konstatiert Pasolini, wie der Kapitalismus es geschafft habe, sich gezielt den neuen Menschen zu erschaffen, der all die Waren konsumiert, die er herstellt. Wie tiefgreifend und unumkehrbar diese Wandlung ist, wie stark das menschliche Selbstverständnis mit dem Ablegen traditioneller Essgewohnheiten und Verhaltensweisen erodiert, hat bis heute kaum jemand so klar formuliert. Und man erschrickt darüber, weil es ein Prozess ist, der sich mit der Globalisierung in ungeahntem Ausmaß fortsetzt.

Im Zusammenhang damit steht ein weiteres Thema, das Venedig in diesem Jahr prägte: die Frage von Populär- und Elitekultur. Denn das Filmfestival selbst hat nun einen bösen Zwilling, das neugegründete Festival in Rom im Oktober. Und Rom verspricht, was Venedig nie sein wollte und eben auch nicht kann: populär zu sein. Schon von der Infrastruktur ist Venedig dazu verurteilt, Elite-Event zu bleiben. Doch die dazu gehörende kulturelle Identität hat unleugbar an Prestige verloren: Gibt es eine Überlebenschance für das elitäre, marktferne Kino? In dieser Hinsicht war eine allgemeine Verunsicherung zu spüren: Sind Filme heute überhaupt noch wichtig genug? Drängen sich auf der Architekturbiennale die Menschen nicht längst viel begieriger?

Die Institution des ältesten Filmfestivals der Welt steht wie die Queen in Stephen Frears Film also vor der wichtigen Entscheidung, sich zu modernisieren und zu popularisieren - aber bitte mit Würde! Queen Elizabeth ist es gelungen, eine Form dafür zu finden, ohne auf den "Nennen Sie mich Tony"-Tonfall einzusteigen. So ist The Queen - wie auch ihre Entsprechung im wahren Leben - ein rares Hoffnungszeichen dafür, das Vertrauen in alte Institutionen nie zu früh aufzugeben. Die richtigen Gesten finden, die richtigen Worte setzen, das richtige Bild abgeben, das macht ihnen so schnell keiner nach.


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