Nicht nur nette Menschen

44. Dokfestival in Leipzig Die Erforschung der eigenen Wurzeln scheint aktuell wie nie zuvor

Gorbatschow als netten Mann zu betrachten, mag für Deutschland nichts Ungewöhnliches sein, für Russland stellt es fast einen Tabubruch dar. Dort galt er lange als lächerliche Figur, gegen den viele einen verachtungsvollen Groll hegen, weil er das Sowjetreich in den Untergang geführt hat. Erst seine anrührend große Trauer um Ehefrau Raisa hat ihm in der russischen Öffentlichkeit wieder Sympathien verschafft und das Interesse am Menschen, wenn auch nicht am Politiker, neu entfacht. Vitalij Manskij hat nun für seinen Film mit dem Titel Gorbatschow das letzte Staatsoberhaupt der UdSSR auf Reisen nach Berlin, Rom und seine Heimat in Südrussland begleitet und ihn reden lassen.

Vor dem Brandenburger Tor spricht Gorbatschow vage über Enttäuschungen des Lebens, vor dem Colosseum vergleicht er seine Lage mit der von Julius Cäsar, der auch von seinen ehemaligen Mitstreitern abgesetzt worden sei, die dann das Reich dem Zerfall preisgaben, vor den Kolchosäckern seines Geburtsorts verleiht er der eigenen Lebensmüdigkeit Ausdruck. In Berlin an der East Side Gallery schütteln ihm Passanten begeistert die Hand, in Rom behauptet er, nur sein Double zu sein und löst damit erleichterndes Lachen aus. Je länger man diesem Mann zuschaut, ihn schließlich mit Bruder, mit der blinden Tante ("Sascha und Mischa, dass ihr endlich da seid!"), mit seinen Enkelinnen sieht, desto mehr bekommt man den Eindruck, dass er nicht trotz, sondern wegen seiner Nettigkeit eine letztlich unglückliche historische Gestalt geworden ist. Dieser nette Mensch an der Macht hätte jedes Imperium zu Fall gebracht.

Auch Holger Meins muss ein netter Mensch gewesen sein. Gerd Conradt gehörte mit ihm zusammen zum ersten Jahrgang der Filmhochschule in Berlin, der im Jahre 1966 noch persönlich von Willy Brandt begrüßt wird mit der Hoffnung auf neue Impulse, die von ihm ausgehen sollen. Seit Jahrzehnten beschäftigt sich Conradt mit seinem Studienkollegen, hat ein Buch über ihn gemacht und konnte nun endlich diesen Film fertig stellen: Starbuck - Holger Meins. Michael Ballhaus, Harun Farocki, die Liste der Namen, die mit Meins studiert haben, ist illuster und zeigt, dass sich Brandts Erwartungen voll erfüllt haben. Auch Wolfgang Petersen rühmt sich noch auf einer Pressekonferenz im Jahr 2000, dazu gehört zu haben ("I studied with the terrorist Meins, you know").

Obwohl Conradt sich schon so lange mit dem Projekt befasst, stellt sein Film nun die Nachhut dar zur "neuen Welle" an Filmen über den Terrorismus wie Volker Schlöndorffs Stille nach dem Schuss oder Andres Veiels Black Box BRD, was vielleicht das übliche Schicksal ist von Vorhaben, in die der Autor persönlich involviert ist. Als nicht verurteiltes Opfer des Hungerstreiks eignet sich Meins wie kein anderes Mitglied der RAF dazu, zum Märtyrer stilisiert zu werden, aber Conradts Sichtweise ist viel zu unpolitisch, um Verklärung (oder auch Kritik) zu betreiben; was ihn interessiert, ist mit bewundernswerter Hartnäckigkeit die Person. Die genreüblichen Erzählungen der Zeitzeugen im Film werden durch die Aussagen eines Jugendfreundes strukturiert, der Bilder und Zeichnungen von Meins kommentiert und ihnen so erstaunliche wie vorsichtige Einsichten über den Menschen entnimmt. An die Motive des Entschlusses, in den Untergrund zu gehen, kommt der Film allerdings auch nicht näher heran als die vielen Features und Interviews, die in diesem Umfeld seit drei Jahrzehnten gemacht werden: Irgendwie lag es im Geist der Zeit, erfahren wir, während die einen von ihren Verpflichtungen wie Frau, Kind und Job davon abgehalten wurden, taten die anderen eben den entscheidenden Schritt. Warum das ein blinder Fleck bleibt, verdeutlicht Conradts Film im Grunde unfreiwillig: Die Zeugin, die darüber Auskunft geben könnte, wollte sich nicht kenntlich machen, so inszeniert der Film ihre Aussagen, die dadurch aber an Glaubwürdigkeit verlieren. Man weiß jedoch sofort wieder, warum das so ist: So historisch der Stoff heute scheint, sind doch nicht alle Taten verjährt. Entgegen den Befürchtungen leistet Starbuck - Holger Meins einer Mythologisierung des Terroristen keinen Vorschub, sondern bewirkt eher das Gegenteil; Conradts persönlich geleitetes Interesse reduziert ihn auf menschliche Maße.

Das diesjährige Programm in Leipzig hinterließ überhaupt den Eindruck, dass es stets persönliche Motive sind, die Dokumentarfilmer zur Kamera greifen lassen. Besonders beliebt ist nach wie vor das Erforschen der eigenen Wurzeln. In Matrilineal versucht Caterina Klusemann, etwas über die Herkunft ihrer Großmutter herauszubekommen, worüber diese aber partout nicht reden will. Das Leitmotiv des Films bildet deshalb die Tür, die die Großmutter hinter sich zuschlägt, sobald die Enkelin wieder mit der Kamera anrückt. Klusemann muss sich erst selbst in die heutige Ukraine aufmachen und dort dem Schicksal ihres Großvaters nachforschen. Solchermaßen eingekreist von der detektivischen Arbeit der Enkelin, holt die Großmutter endlich unter dem Schrank ihre ursprünglichen Papiere hervor, um dann nicht ohne Stolz zu berichten, wie sie sich als Jüdin unter deutscher Besatzung mit falschen Pässen durchgeschlagen hat. Merkwürdig bleibt, wie wenig man über die Autorin in dieser persönlichen Spurensuche erfährt.

Das ist anders im israelischen Film My Fantasia von Duki Dror. Der Golfkrieg bringt den Regisseur dazu, über die eigene Herkunft nachzudenken - seine Familie stammt aus Bagdad und lebt nun in Tel Aviv. Hier ist es der Vater, der sobald der Sohn mit der Kamera auftaucht, diesem den Rücken zukehrt und sich weigert, über seine Jahre im irakischen Gefängnis zu sprechen. Um überhaupt etwas zu erfahren, befragt Dror seine Onkel, seine Mutter und seine Cousins. Über mehrere Jahre setzt er ein Familienpuzzle zusammen, dessen Rätsel sich am Ende löst, dessen Ambivalenz doch weiterbesteht: Einerseits voll Stolz auf ihre Ursprünge, versuchen diese Irakischen Juden andererseits das "Arabische" ihrer Herkunft zu verdrängen. Ihre Namen haben sie hebräisiert, Duki aber wird vorgeworfen, nie seine eigentliche Muttersprache, arabisch gelernt zu haben.

Den palästinensich-israelischen Konflikt aus ungewohnter Perspektive beleuchtet auch der diesjährige Preisträger des Leipziger Dokfestivals, Die Eingeschlossenen von Anat Even. In einem Haus in Hebron, das genau die Grenze bildet zwischen palästinensischem Autonomiegebiet und Israel, leben drei Witwen mit ihren Kindern. Schimpfend putzen die Frauen den Dreck weg, den die israelischen Soldaten auf ihrem Dach und in ihrem Hausflur hinterlassen; wenn sie im engen Treppenhaus sich aneinander vorbei schlängeln, fällt kein Wort, man blendet sich gegenseitig aus. Aber die Israelis sind andererseits auch nur eine Einschränkung von vielen, denen die Witwen ausgesetzt sind, und so sehr ihre Situation sie zum Zusammenhalt zwingen sollte, finden die beiden älteren immer noch Gelegenheit, gegen die jüngere zu intrigieren.

Einmal liegt in Hebron kniehoch Schnee. Soldaten und Kinder bewerfen sich jauchzend gegenseitig mit Schneebällen. Danach erzählt einer der Jungs seiner Mutter davon: "Wir haben mit den Israelis im Schnee gespielt, als wären es ...", er zögert, "ganz normale Nachbarn". Seine Mutter will es nicht glauben.

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