Niemandem weh tun

Berlinale 2006 Politisches Kalkül bestimmt die Preisvergabe, die politische Wirkung der Filme muss sich erst noch erweisen

Der häufigste Kommentar zur diesjährigen Preisvergabe bestand aus Abwinken: Die Berlinale und ihre Vorliebe fürs Politische! Das ist ein Weg, um auszusprechen, was oft vorkommt, auf allen Filmfestivals der Welt und nicht nur in Berlin: Die Jury hat angeblich nicht den besten Film ausgezeichnet, sondern etwas anderes. Entscheidungen dieser Art haben jedoch einen großen Vorteil: Über die Frage, welcher denn nun der beste Film der diesjährigen Berlinale war, kann weiter gestritten werden.

Aber was bedeutet das eigentlich, die Berliner Vorliebe fürs Politische? Tatsächlich ist der Gewinner des goldenen Bären, der bosnische Film Grbavica dafür ein gutes Beispiel: Es handelt sich um Kino mit besten Absichten. Wer bösartig sein will, wird bemerkt haben, dass selbst Jury-Präsidentin Charlotte Rampling sich die Mühe erspart hat, herauszufinden, wie man den Titel denn nun ausspricht. Aber sei´s drum: Grbavica ist ein Stadtteil von Sarajevo. Dort wohnt Esma, die Hauptfigur des Films, eine Frau mit traurigen Augen, dauermüden Bewegungen und einer 13-jährigen Tochter. Die ist herrlich eigensinnig und fragt ihre Mutter mit störrischer Unerbittlichkeit nach dem Zeugnis, das den Heldentod des im Krieg gefallenen Vaters belegt. Damit bekäme sie nämlich die Kosten der Klassenfahrt ersetzt. Der erfahrene Zuschauer weiß: Der einzige Grund dafür, dass die Mutter das Papier nicht findet, kann nur sein, dass der Vater gar kein Kriegsheld war. Und der aufgeklärte Zeitgenosse zählt zusammen: 13 Jahre ist das Mädchen alt, genauso lange ist der Krieg vorbei ... So zittert man der unausweichlichen Beichtszene entgegen, in der enthüllt werden muss, was diesen Film so politisch macht: Esma ist eine der zigtausend Frauen, die im Jugoslawienkrieg vergewaltigt wurden. Dezent und zurückhaltend inszeniert die bosnische Regisseurin das Mutter-Tochter-Drama, mit Respekt und Empathie für ihre Protagonisten. Einerseits ist man froh, dass das heikle Thema nicht durch formale Extravaganzen verstellt wird. Andererseits hätte man sich etwas weniger Anpassung ans Fernsehformat gewünscht. Man verlässt den Film mit dem widersinnig guten Gefühl, mit den "Richtigen" mit zu fühlen. Das ist nicht unwichtig, aber politisch ist es eigentlich nicht.

Da wirkt die Entscheidung, den silbernen Bären zu teilen und ex aequo an den dänischen Film En Soap und den iranischen Offside zu vergeben, doch unmittelbar politischer: Offenbar hatte die Jury die schöne Idee, Dänemark und Iran auf offener Bühne zusammenzubringen. Das ging aber dann deshalb schief, weil der geteilte Bär verdoppelt worden war und die jeweiligen Regisseure sorgfältig getrennt ihre Statue entgegennahmen. Beide Filme sind trotz unterschiedlichster Herkunft gute Beispiele des "Politischen", wie es der europäische aufgeklärte Mainstream gern hat: Sie greifen strittige Themen auf und beleidigen niemand. En Soap zeigt die Romanze eines Transsexuellen mit seiner Nachbarin; Offside handelt von Teheraner Mädchen, die sich ins Fußballstadion mogeln. Beide Male geht es also um "Geschlechterverhältnisse" als Prüfstein der Gesellschaft, und beide Filme halten sich vollkommen an den Rahmen des "Anständigen". Der Iraner Panahi löst seinen Konflikt - Mädchen sind im Stadion nicht zugelassen - am Ende wohlfeil im Fußballpatriotismus auf. Wer wollte diesen Mädchen versagen, sich für einen Nationalsport zu begeistern? Für ihre Motive und Persönlichkeiten interessiert sich der Regisseur allerdings denkbar wenig. In ähnlicher Weise macht sich auch En Soap das "Abseitige" lediglich zu Nutze, um die eigene Liberalität auszustellen. Dabei finden sich solche Geschichten, wie der Titel schon sagt, in jeder reaktionären Telenovela.

Der im Rahmen des Anständigen verbleibende Umgang mit Anstößigem scheint aktuell besonders hoch im Kurs zu stehen. Darauf verweist auch die Auszeichnung an Moritz Bleibtreu für seine Rolle in Oskar Roehlers Elemtarteilchen, ein Film, der vor allem deshalb begrüßt wurde, weil er den Zuschauern den Skandal erspart, den das Buch noch ausmachte.

Die Berliner Vorliebe fürs Politische entpuppt sich dieses Jahr also besonders als eine Vorliebe fürs Kalkül und für den Kompromiss, folglich für Entscheidungen, die wenig mit den Filmen selbst zu tun haben. Prompt schlug die vielpropagierte neue Dominanz des deutschen Filmschaffens gegen diese zurück: Statt eines Hauptpreises zeichnete die Jury nämlich lieber eine Reihe von Einzelleistungen aus. So gewann Sandra Hüller den silbernen Bären für ihre Darsteller-Leistung in Hans-Christian Schmids Requiem, und Jürgen Vogel wurde für sein Gesamtengagement in Der freie Wille geehrt, dem wohl umstrittensten Film des diesjährigen Wettbewerbs, der die Grenzen des gern Gesehenen eindeutig überschritt, was aber keineswegs gegen den Film spricht. Leer dagegen ging ausgerechnet Valeska Grisebachs Sehnsucht aus; ein Film, der ohne Koketterie und doch unglaublich charmant halbdokumentarische Aufnahmen und Laiendarsteller im Bemühen um Wirklichkeitsnähe zusammenbringt, und dabei wie durch die Hintertür zu melodramatischer Intensität findet. Grisebach wurde ganz offenbar das Opfer des "politischen" Kalküls, dass nicht alle der vier deutschen Beiträge belohnt werden konnten - das hätte schließlich zu sehr nach Politik ausgesehen. Im Tross der epigonalen Dutzendware von Filmen wie dem chinesischen Isabella oder dem thailändischen Invisible Waves ragte Grisebachs Film auf jeden Fall heraus.

Der im herkömmlichen Sinne "politischste" Film der Berlinale war Michael Winterbottoms cineastisches Pamphlet Road to Guantanamo, eine Auszeichnung war ihm deshalb von vorne herein so gut wie sicher. Dazu noch ist Road to Guantanamo ein Film, der auf den ersten Blick genau das bietet, was man von ihm erwartet. Ohne Umschweife, im Stil eines Nachrichtenfeatures wird der Fall der drei muslimischen Briten nachgestellt, die bei einem Trip nach Afghanistan 2001 in Gefangenschaft gerieten und von den Amerikanern nach Guantanamo verschleppt wurden. Kurz, bündig und flott geschnitten präsentiert Winterbottom die Geschichte, mit Ausschnitten aus Interviews mit den "echten" Beteiligten und mehr bedarf es auch nicht, um sich über deren erlittenes Unrecht zu empören. Interessant wird der Film im Grunde erst, wenn man darüber nachdenkt, was Winterbottom hier nicht macht, beziehungsweise auslässt: Nur andeutungsweise erzählen die Betroffenen etwas über ihre Motive und Empfindungen. Um so stärker wirkt der zunehmende Unterton der Empörung, der sich in ihre Schilderungen schleicht. Was sie heute von der amerikanischen Politik halten, muss man sie gar nicht erst fragen. Man kann verschiedener Meinung darüber sein, ob man ein solches Kino-Pamphlet sehr gut oder sehr schlecht oder vielleicht beides auf einmal finden soll. Und man kann Winterbottom einen gewissen Mut nicht absprechen: Road to Guantanamo ist auf jeden Fall ein Film, den man nicht zweimal gesehen haben muss, und der sich mit der Lösung des verhandelten Problems selbst erledigt haben wird. Soviel Bereitschaft zur Selbstaufgabe muss dem Regisseur erst mal jemand nachmachen.

Es gab einen Film im diesjährigen Wettbewerb, der es hervorragend verstand, das "Politische" weder allein in guten Absichten versanden zu lassen noch plakativ vor sich herzutragen: Hans-Christian Schmids Film Requiem, der so bezaubernd wie beklemmend von allem erzählt, was unsere Gegenwart bewegt: von den prekären Übergängen von Religion zu Psychologie, von Familienleben und Selbstständigkeit, von Stadt und Land. Schmid greift die Geschichte des skandalösen Tods einer jungen Studentin während eines Exorzismus-Ritus in der süddeutschen Provinz der 70er Jahre auf und macht daraus eine Studie, die so präzis und individuell ist, dass sie verallgemeinert werden kann. Auch so kann man das "Politische" verstehen.


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