Etwas irritiert an diesen Bildern: Man sieht eine einsame, verschlossene Frau, die stumpf ihrem Alltag nachgeht: Fabrikarbeit, Kantinenessen, Heimweg, Ankunft im aufgeräumten Zuhause, kärgliches Abendessen, frühes Zubettgehen. Auf den ersten Blick ist das ein eintöniges und depressives Leben; auf den zweiten aber, und das ist das Irritierende daran, wird offenbar, dass die stumpfe Routine für die einsame Frau Halt und Geborgenheit bedeutet. Und im Abgrund, der sich auftut zwischen dem, was man sonst als Bilder der totalen sozialen Entfremdung kennt und dem, wie diese Frau sich darin einrichtet, erahnt man: Sie muss etwas Schreckliches erfahren haben.
Hanna (Sarah Polly) wird zum Personalchef gerufen: Er sagt ihr, sie solle endlich mal einen Monat Urlaub nehmen, den ersten in vier Jahren. "Einen ganzen Monat?" fragt Hanna entsetzt zurück. Die spanische Regisseurin Isabel Coixet benutzt Hannas Bindung an die Alltagsroutine als teils tragischen, teils witzigen Aufhänger, um von Dingen zu erzählen, die eigentlich niemand hören will: Hanna ist eine jener Frauen, die im Jugoslawienkrieg missbraucht und vergewaltigt wurden. Auf solche Themen reagiert die überwältigende Mehrheit der Zuschauer reflexhaft mit wohlmeinendem Desinteresse: Man weiß Bescheid, möchte sich aber nicht damit beschäftigen. Coixets Film gelingt es, dieser Abwehrreaktion entgegenzuwirken, indem Hanna als mysteriöse Figur eingeführt wird, die sich auf eigenwillige und nicht ganz zu durchschauende Weise in einem gespensterhaften Zustand des Überlebens eingerichtet hat.
Die Begegnung mit einem anderen Schwerverletzten wird diesen schützenden Panzer aufbrechen. Im zwangsweise verordneten Urlaub nämlich kann Hanna der Versuchung nicht widerstehen, nach dem nächstbesten Arbeits-Angebot wie nach einem rettenden Strohhalm zu greifen: Einsam im Restaurant sitzend hört sie am Nebentisch, dass eine Krankenschwester gesucht wird und geht augenblicklich hin, um sich vorzustellen: sie sei Krankenschwester. Prompt wird sie engagiert zur Pflege von Josef (Tim Robbins), der sich bei einem Brand auf einer Bohrinsel schwer verletzt hat. Dorthin wird sie ausgeflogen.
Auch um Josefs Verletzung herum wird ein Geheimnis aufgebaut, das der Film wie das von Hanna Erlittene nach und nach enthüllt. Doch nicht die allmähliche Lüftung der Geheimnisse macht die Spannung von Das geheime Leben der Worte aus, sondern der zarte, immer gefährdete Prozess der Annäherung zwischen Krankenschwester und Patient. Josef ist durch den Brand vorübergehend erblindet; für Hanna bedeutet das paradoxer Weise Freiheit: sie muss sich vor ihm nicht extra verbergen. Am Anfang verweigert sie jede Auskunft über sich, behauptet rothaarig zu sein und Cora zu heißen. Aber dann taut sie ganz langsam auf in der intimen Interaktion mit dem Schwerverletzten, der nie aufhört neugierig nachzufragen. Während sie seine Wunden versorgt, therapiert er sie auf seine Weise. Als Hanna sich schließlich an seine Seite setzt und anfängt zu erzählen, wie fröhlich der Tag begann, mit dem ihr bisheriges Leben abrupt endete, hat ihre Beichte eine emotionale Wucht, der man sich als Zuschauer kaum erwehren kann.
Der Sentimentalität der Hauptgeschichte steuert Coixet durch stimmungsvolle Aufnahmen der Bohrinsel entgegen. Sie zeigen das abgekapselte Leben von Sonderlingen, die alle mehr oder weniger in der Einsamkeit und Abgelegenheit Schutz gefunden haben. Die Bohrinsel, in wunderschönen Bildern mal von nah oder fern, inmitten stürmischer See oder vor sanften Sonnenuntergängen zu sehen, wird zum bizarren Hotel am Ende der Welt, dann wieder zur glitzernden, verheißungsvollen Insel - ein Ort der Wünsche und Verwünschungen, in der der Einzelne die maximale Freiheit hat: sich von anderen abzugrenzen.
Der Koch, der so gut kocht, dass es die Geschmäcker der Crew übersteigt, der Meeresbiologe, der im Stillen seinen Ökoutopien nachhängt, der Maschinist, der gerne im Regen vor sich hin tanzt - von melancholischer Popmusik untermalt, ergeben sich daraus lakonische Szenenfolgen mit genau der richtigen Dosis absurdem Humor, der die Geschichte von Hanna und Josef vor dem Kitsch bewahrt.
Als Josef schließlich ausgeflogen wird, um in einem Krankenhaus weiter zu genesen und Hanna ihn verlässt, um in ihren schützenden grauen Alltag zurückzukehren - ist es mit dem Gleichgewicht von Kitsch und Lakonie allerdings vorbei. Vordergründig sieht es wie ein Zugeständnis an das seelische Wohl der Zuschauer aus: ein Happy End! Hanna erlöst aus Einsamkeit und Ödnis! In Wahrheit aber ist es nichts weniger als Verrat, wenn eine Figur von solch eigensinniger Stärke wie Hanna sich am Ende doch wieder von und durch einen Mann retten lassen muss.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.