Die 46. Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen standen dieses Jahr ganz im Zeichen des Pop. Wer dabei sofort an MTV und Musikvideos denkt, liegt gar nicht so falsch, besteht doch eine Neuerung des Festivals in der Einführung des "MuVi"-Preises für den besten deutschen Videoclip, der in diesem Jahr zum zweiten Mal vergeben wurde. Dahinter steht mehr als lediglich die Schaffung eines weiteren Festival-Events, der Publikum anlocken soll (was er auch erfolgreich tut) - es ist wohl Teil einer Strategie, die das Oberhausener Festival unter der Leitung von Lars Henrik Gass verfolgt und die man auch als Versuch der (Re-) Popularisierung des Genres Kurzfilm bezeichnen könnte.
Einst, so werden sich manche noch erinnern, als der Kurzfilm als Vorfilm vor dem Hauptfilm noch seinen Platz im Kino hatte, gehörte er zum populären Genre. Doch aus heutiger Perspektive will es so scheinen, als sei er mit zunehmender Verdrängung aus den Kinos immer elitärer geworden, bis schließlich Experimental- und Kurzfilm fast zu Synonymen verwachsen sind. Als Konsequenz dieser Entwicklung erscheint der Bereich des Kurzfilmes zwar von den Zwängen direkter Vermarktung freigesetzt, was eine ungeheure Formenvielfalt und den beständigen Mut zum Experiment zur Folge hat, andererseits herrschen die idiosynkratischen Regeln des Kunstmarktes. Festivals erfüllen die wichtige Funktion, eine Öffentlichkeit herzustellen, die über das reine Fachpublikum hinausgeht und tragen so gesehen immer schon zur Popularisierung bei. Mit dem Umzug in die Innenstadt, der Parole, dass Kurzfilme mehr seien als Talentproben für "richtige" Filme und dem Bestreben, die als zu eng empfundenen traditionellen Genredefinitionen zu erweitern, will man in Oberhausen der Marginalisierung entgegensteuern.
Vom "behutsamen Imagewechsel" ist die Rede, was erstmal aufhorchen lässt. Dass die Zeiten, in denen man Oberhausen hauptsächlich mit dem gesellschaftskritischen Experimentalfilm assoziiert hat, vorbei sind, merkt man an vielen Stellen. Spätestens jedoch, wenn das Stichwort der "alten Avantgarden" fällt, denen man verpflichtet sei. Ein untrügliches Anzeichen dafür, dass hier ein Generationswechsel gesucht wird. Und das nicht nur auf Seiten der Macher, so sprach Festivalleiter Lars Gass bei der Eröffnung auch von einer erhofften "Regenerierung des Publikums". Offen, undogmatisch, jung - wenn man so will, sind es die Werte des Pop, die als Festivalhaltung präsentiert werden.
Öffnen will man sich laut Programmatik für einst als unkünstlerisch, konsumistisch oder auch abstoßend gehaltene Formen. Im Falle der Musikvideos kommt das fast einem Hinterherlaufen gleich. Tatsächlich, wer wollte bestreiten, dass diese zum Genre des Kurzfilms gehören, allerdings hat sich die Rede von der Trend setzenden Funktion der MTV-Ästhetik und ihrer Innovationskraft auch schon etwas aufgebraucht. Die zwei Clip-Programme, die es in Oberhausen zu sehen gab (eine für den erwähnten deutschen MuVi-Preis, das zweite ein internationaler Querschnitt durch formale Neuheiten), konnten nicht gänzlich von der sich aufdrängenden Frage ablenken, ob sich die Lebensfunktion aller Videoclips, Werbeträger der Musik zu sein, tatsächlich so weit in den Hintergrund drängen lässt. Andererseits wäre es vielleicht nur konsequent, gleich eine Sparte für den Reklamefilm einzurichten, was ja in der Logik der konsequenten Erweiterung des Kurzfilmbegriffs läge. Im Vergleich mit den übrigen Programmen erwiesen sich die Clip-Programme überraschenderweise als verhältnismäßig monoton und erschöpfend.
Das Thema Pop kam aber auch noch ganz anders vor. Im thematischen Sonderprogramm "Pop Unlimited?" wurden die (selbst-)kritischen Gegenfragen sozusagen gleich mitgestellt. Von Imagetransfers und Bildproduktion war hier die Rede. Davon, dass Pop einst eine Kultur der Ausdifferenzierung war, ein Imagereservoir zur Orientierung in der Unübersichtlichkeit spätindustrieller sozialer Welten. Doch seit es Pop gibt, gibt es den Schatten, der ihm folgt und nie ganz von ihm zu unterscheiden ist: die Kommerzialisierung oder auch, weniger altlinks ausgedrückt, die Vereinnahmung. So wurde hier in einer Sektion eine Reihe von Werbespots (!) gezeigt, in denen Pop als Lebensgefühl den Verkauf von Autos oder Versicherungen befördern soll. Doch die Interferenzen von Warenwelt und Popkultur sind vielfältig, und teilweise lässt sich kaum mehr unterscheiden, wer hier von wem vereinnahmt wird. An den wilden Filmchen der Sektion "Girl Culture" war das schon einfacher: Die Comic-Strip-Klischees des white trash girl als Ermächtigungs- und Rachephantasie.
Abseits der zu erwartenden Sondierungen von synthetic pleasures, Netzhautintensitäten und gelebten Geographien gab es auch noch das Phänomen, das Popkulturelle zu entdecken, wo es vorher noch nicht war, zum Beispiel in den Titelsequenzen. Diese als Kurzfilme zu betrachten, stellt erstmal eine verheißungsvolle Herausforderung dar, lässt sich doch eine Vielzahl an wahren Meisterwerken entdecken, die man zwar alle schon gesehen, aber nie richtig wahrgenommen hat. Sergio Leones For a few dollars more etwa - mitten in der Wüste ein Schuss, ein Mann fällt vom Pferd, und dann die zeitlose Aussage: "Where life has nor value, death sometimes has ist price", sozusagen ein visueller Popsong. Die einzelnen Sektionen wurden jeweils durch äußerst unterspannt dargebotene Vorträge betreut, die an Coolness ihrem Thema in nichts nachstehen wollten. Aber auch das gehört wohl zum Pop-Phänomen: der kritische Außenstandpunkt ist verpönt, lieber ist man teilnehmender Beobachter.
Die Suche nach neuen Haltungen war auch für das zweite thematische Sonderprogramm charakteristisch. "Sex, Rock'n'Roll and History" überschrieben, widmete man sich hier dem Underground des Kurzfilms in Osteuropa vor und nach dem Mauerfall. Wie schon der anglophone Titel andeutet, wollte man alles anders machen als bisher und, so die programmatische Aussage, Osteuropa als "Symptom" des Westens präsentieren. Ebenfalls in Sektionen mit ansprechenden Titeln unterteilt, wie "Bodies without skin" oder "Politics of love" wurde hier ganz gegen den Strich der üblichen Retrospektiven gearbeitet, das heißt keine chronologischen oder geografischen Ordnungen dargeboten. Es sollte um Osteuropa als mental space gehen und der Zuschauer selbst den assoziativen und fiktionalen Zusammenhängen des überaus reichen und teilweise sensationellen Materials nachspüren.
Allerdings war das Interessante dieses Sonderprogramms weniger der Sex (um den es nur am Rande ging) und schon gar nicht der Rock'n'Roll (der so gut wie gar nicht vorkam), sondern ein paar eher am Rande ausgesprochenen Fragen der begleitenden Gäste. Wie die nach den popkulturellen Entsprechungen in Osteuropa vor dem Mauerfall: kann man Lenin und Stalin als Teile einer solchen Popkultur betrachten? Oder der bemerkte Orientierungswechsel der Künstler heute auf die Populärkultur des Westens. Luuser war zum Beispiel der Titel eines estnischen Kurzfilms, in dem sich eine Künstlerin vorstellt und jeden Satz von amerikanischem Dosengelächter begleiten lässt. In einer litauischen Kurzdokumentation sieht man entsetzte Kunstlehrer über die Disneyland-Skulpturen einer Schülerin diskutieren. So sehr man den Paradigmenwechsel weg von den üblichen Präsentationsformen von "Dissidenz" und "offizieller Kultur" begrüßen mag, gingen auf diese Weise doch wichtige programmatische Punkte im popkulturellen Sumpf einfach unter. Was fehlte, war vor allem der Sinn für Geschichte, die wohl das Gegenteil von history sein muss.
Die beiden Wettbwerbsprogramme (international und deutsch) kamen dagegen verhältnismäßig wenig poppig daher. Die große Formenvielfalt (Von Animations-, über Dokumentar- bis zu Experimental- und Spielfilm war alles dabei) wurde in sorgfältig zusammengestellten Sektionen mit lockerem thematischen Zusammenhang präsentiert. Zu sehen waren die klassischen Selbst- und Familienerforschungen, wobei sich ein Hang zum Dokumentarischen ausmachen ließ. Wie in Stanislaw Muchas Wunder, der einfach nur ein Gruppe von Menschen beobachtet, die versucht, das angeblich erschienene Bild der Mutter Gottes im Fenster einer Schule zu erblicken. Es kommt eben immer auf den rechten Winkel der Betrachtung an.
Zu guter Letzt gab es auch noch den Auftritt des Pop-Philosophen Slavoj Zizek, der sich nur wenig vom Kontext beeindrucken ließ und deshalb gar nicht über Kurzfilme sprach. Und trotzdem Wesentliches zu den im Raume stehenden Themen beizutragen hatte. So die Rede vom immer schon imaginierten Blick eines Anderen, in Filmen von James Bond bis Kieslowski inszeniert, und den unheimlichen Übergängen von Fiktion und Dokumentation: Während man im wahren Leben eine Rolle spielt, erlaubt der fiktionale Raum, ganz man selbst zu sein - Popkultur als ideales Medium für dieses elementare Bedürfnis nach Selbststilisierung.
Und mit der großen Geste, die beständig erklärt, worum es hier eigentlich geht, stellte er ganz nebenbei auch noch fest, was den wahren Charme Osteuropas ausmachte: jene übel riechende Materialität des Lebens, die für den Westen der reinste Horror sei und die in westlichen Filmen deshalb viel stärker zensiert werde, als selbst im stalinistischsten Osten. Auf diese Weise stellte Zizek eine der vielleicht besten und erfolgreichsten Pop-Strategien zur Schau, wichtig gleichermaßen für Ost und West: nämlich, die klassischen Kunstwerke immer wieder gegen den Strich zu lesen, um einen unterdrückten, subversiven Sinn zu offenbaren.
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