Das Fernsehen hat eine natürliche Affinität zur Gerichtsverhandlung. Das liegt zum einen an deren erzählerischem Potential - Fallgeschichten bestehen idealerweise aus demselben Stoff wie spannende Dramen. Da das Rechtssystem den Umgang von Menschen untereinander und das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft allgemein reguliert, kommen vor Gericht, so die Erwartung, die typischen Probleme einer Gesellschaft zur Sprache, und das nicht auf abstrakte Weise, sondern vertreten von Personen und ihren individuellen Geschichten. Menschen vor Gericht, das sind Menschen "hautnah", so das plakative Versprechen der Berichterstatter. Gefundenes Medienfressen also; das nie nachlassende Interesse an den altgedienten Genres wie Gerichtsreportagen und dem Court room drama im Kino zeigt die Unerschöpflichkeit dieser Art von Geschichtsproduktion.
Die besondere Attraktivität von Gerichtsverhandlungen fürs Fernsehen macht jedoch ein anderer Aspekt aus: der "Live-Charakter", die "Performance"-Qualität der Verhandlung selbst, die dem Theater analogen Regeln zu folgen scheint. Befunden wird einzig über das, was im Gerichtssaal vorgetragen wird, Zeugen müssen hier gehört, Beweisstücke hier vorgelegt werden. Es herrscht also eine Verpflichtung auf eine gewisse Einheit von Handlung, Ort und Zeit, die nicht nur dem antiken Drama ähnelt, sondern vor allem sehr fernsehgerecht ist. Wie bei Sportereignissen gibt es einen regelgerechten, ritualisierten Ablauf, an dessen Ende eine Entscheidung steht. Und wie beim Sport geschieht all dies im öffentlichen Raum. Zwar gibt es davon abgetrennte Bereiche, aber Rechtssprechung, wie am Wort ablesbar, ist ganz wesentlich ein Ereignis für die Öffentlichkeit.
Der Vergleich mit dem Sport mutet sofort frivol an - woran zu spüren ist, dass das Gericht als Institution eine besondere Aura besitzt, die eigens geschützt wird. Es ist Bürgerpflicht, das Gericht zu respektieren, es zu "ehren" gar, und eine Vielzahl von im Grunde altmodischen Utensilien wie Roben, Perücken und weitere Kopfbedeckungen, die außerhalb des Justiz-Kontextes lächerlich wirken, dienen innerhalb als Insignien einer tradierten und verbrieften Würde. Dieses institutionalisierte Ansehen nun ist ein Aspekt, über dessen Fernsehtauglichkeit wenig gesprochen wird. Untergründig spielt jedoch die Angst vor dem Verlust der respektheischenden Aura in der Diskussion um die Fernsehübertragung aus den Gerichtssälen keine geringe Rolle.
Das mag ein Grund dafür sein, warum nur sehr wenig über die Chancen gesprochen wird, die sich aus der direkten TV-Berichterstattung ergeben könnten. "Popularisierung" - eben ganz anders als in den USA - ist hierzulande in erster Linie ein Schimpfwort, wenn nicht sogar eine leibhaftige Gefahr für so eine altehrwürdige Institution wie das Gericht. Dabei muss der Veränderungsdruck der eindringenden Kameras nicht immer nur negativ bewertet werden. Vorstellbar wäre zum Beispiel, dass die für viele fast unverständliche Fachsprache der Juristen durch gekonnte Moderation denjenigen, deren Zusammenleben hier ja geregelt wird, wieder nähergebracht wird. Wie überhaupt Fragen des Rechts aus den Berufszirkeln heraus mehr in die Öffentlichkeit gebracht werden könnten. Denn so banal wie wahr gilt doch das Fernsehen als wichtigstes Medium dieser Gesellschaft, woraus folgt, dass was nicht im Fernsehen vorkommt, zur Randerscheinung zu verkommen droht.
Es gibt also ein legitimes Interesse an Rechtsstreitgeschichten von Seiten der Gesellschaft, dessen weniger legitime Seite die reine Neugier ist. Befriedigt wird diese Neugier in den Medien bislang vor allem mit den spektakulären Geschichten aus Amerika. Ob wahr oder fiktiv oder beides in Folge (oft zeigt sich hier die Überlegenheit fiktionaler Nachbildung mit ihren Mitteln der Verdichtung und Vereinfachung) prägen sie zunehmend das Rechtsbewusstsein auch hierzulande: schon glauben viele, durch Schadensersatzklagen auch hier richtig reich werden zu können.
Die Kundigeren dagegen stellen leicht verächtlich die Unterschiede heraus: mit den Geschworenengerichten, in denen es ja tatsächlich um das Beeindrucken von Zuhörern und Zuschauern geht, sind die amerikanischen Gerichte in der Anlage bereits inszenierter, film- und mediengerechter. Gerichtsfernsehen in Deutschland könnte man aber auch als Chance begreifen, das schöne nüchterne Regelwerk unserer Rechtsprechung ins Bild zu setzen.
Wo solche Möglichkeiten Erwähnung finden, werden sie gleich abgewehrt mit dem gewichtigen Argument des Schutzes der Privatsphäre der Beteiligten. Das aktuelle Beispiel der Becker-Scheidung hat gezeigt, dass die große Öffentlichkeit tatsächlich den Ablauf beeinflusst: hier führte sie zur beschleunigten Einigung - nicht unbedingt ein negativer Seiteneffekt. Denn die zweifellos berechtigte Sorge darum, wie die mediale Öffentlichkeit mit den ganz privaten Details der Verhandlungen umgeht, ist nichts wirklich Neues. Es gibt sie, solange Verhandlungen öffentlich sind und es gibt deshalb die Möglichkeit des Gerichts, die Öffentlichkeit auszuschließen. Die Live-Übertragung kann, sie muss nicht voyeuristischer aufbereitet sein als jede andere entsprechende Nachricht.
So ganz lassen sich aber die Öffentlichkeit einer Verhandlung und die der Fernsehzuschauer allerdings nicht gleichsetzen. Ob ein Zeuge im Gerichtssaal oder zusätzlich noch auf zahlreichen Fernsehschirmen zu sehen ist, macht nicht nur mengenmäßig einen Unterschied, sondern qualitativ: Die im Saal Anwesenden nämlich lassen sich in den Blick nehmen; die Fernsehzuschauer nicht. Ähnliches gilt auch für die andere Seite: Auf Zuschauerbänken zu sitzen kann voyeuristisch motiviert sein, aber erst das unbeobachtete Frönen vor dem Bildschirm macht den Zuschauer zum "Spanner". Umfrageinstitute wissen diese Differenz von geheim und öffentlich in einen Wert umzusetzen, mit dem die Zahl derer, die öffentlich bekennen, eine bestimmte Partei zu wählen, multipliziert werden muss. Diese andere Qualität von Fernsehöffentlichkeit gilt es, im Blick zu behalten, bei Übertragungen aus Gerichtssälen genauso wie in den übrigen Nachrichten.
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