Schmetterling und Taucherglocke von Julian Schnabel

Kultur Kino

Das Kino ist gewissermaßen dazu erfunden worden, sich an die Stelle von anderen zu versetzen. Meist erlebt der Zuschauer das als angenehme Selbstvergrößerung - man identifiziert sich mit John Wayne oder Pippi Langstrumpf und fühlt sich für anderthalb Stunden ein bisschen souveräner als im realen Leben. Schmetterling und Taucherglocke aber versetzt den Zuschauer in eine Situation der Schwäche und Machtlosigkeit. Die Kamera imitiert en detail das begrenzte Gesichtsfeld einen Mannes, der soeben aus dem Koma erwacht. Für die ersten Minuten des Films ist es also, als ob man das selbst erleiden müsste: Menschen, die sich mitleidig über einen beugen, die Dinge sagen, ohne im Geringsten darauf einzugehen, was man selber sagt und will. Dann setzt sich die schreckliche Erkenntnis durch: Ich höre sie, aber sie hören mich nicht. Und dann die noch schlimmere: Ich bin von Kopf bis Fuß gelähmt. Schließlich taucht im Gesichtsfeld ein Chefarzt auf, der mit professionellem Bedauern erläutert: "Sie haben das sehr seltene Locked-in-Syndrom." So nennt man in der Medizinersprache den Zustand, bei vollem Bewusstsein vollkommen hilflos zu sein.

Man möchte keineswegs an der Stelle dieses Mannes mit Locked-in-Syndrom sein, aber Julian Schnabels Film zwingt einen dazu. Wer sich von dieser Beschreibung nun abschrecken lässt, verpasst ein Filmerlebnis der besonderen Art. Das Sehenswerte an Schmetterling und Taucherglocke besteht nämlich darin, dass der Film den Zuschauer in einen schrecklichen Zustand versetzt, um ihn im Anschluss auf ganz erstaunliche Weise wieder hinauszuführen: vom Gefesseltsein in der Taucherglocke zur Schwerelosigkeit eines Schmetterlings.

Julian Schnabel hat den autobiografischen Bericht von Jean-Dominique Bauby verfilmt, der 1995, mit 43 Jahren, einen Schlaganfall erlitt und nach Tagen im Koma zu vollem Bewusstsein und totaler Bewegungsunfähigkeit aufwachte. Die einzige Möglichkeit, mit der Außenwelt zu kommunizieren, war sein linkes Augenlid. Mit diesem diktierte er eine kleine Lebensbeichte, die unter dem Titel Schmetterling und Taucherglocke nicht nur in Frankreich zum Beststeller wurde. Bauby verstarb wenige Tage nach der Veröffentlichung.

Der Film rekapituliert auf eindrückliche Weise, welch unermesslicher menschlichen Leistung das Buch seine Existenz verdankt. Aufopferungsvolle Krankenschwestern bringen Bauby bei, der im Film von Mathieu Amalric dargestellt wird, mit der einen beweglichen Wimper zu kommunizieren. Die Logopädin zählt die Buchstaben auf nach der Häufigkeit, in der sie im Französischen vorkommen, und notiert sich, wann er zuckt. Der erste Satz, den er ihr auf diese Weise diktiert, lautet: "Ich möchte sterben." Sie empfindet das als Affront. Später wird er ihr ein "Entschuldigung" zuzwinkern, auf das sie dankbar und erleichtert reagiert, während seine Stimme aus dem Off anmerkt, wie simpel gestrickt doch die Frauen seien. Die Verschränkung von Schilderung und Kommentar hat der Film dem Buch voraus. Durch sie verstärkt sich der Zug, der diesen Bericht aus dem Innern eines Locked-in-Syndroms erträglich macht: die Selbstironie. Für Bauby ist sie das beste Mittel gegen Selbstmitleid und Verzweiflung.

Die Darstellung eines Gelähmten lässt dem Schauspieler Mathieu Amalric nicht viel Spielraum. Umso faszinierender ist es, wie er allein durch seine Stimme den Zuschauer mitreißt. So hilflos sein Körper, so agil ist der Geist, der sich hier ausschließlich aus dem Off artikuliert. Scharfzüngig kommentiert er das Treiben von Schwestern und Ärzten, wechselt von Spott zu Verzweiflung, von Rührung zu Häme und lässt uns immer wieder auch die Angst heraushören, die diesen Mann permanent begleitet.

Schmetterling und Taucherglocke ist ein so eindringlicher und fesselnder Film, dass man das Wunder, das hier passiert, erst im Nachhinein bemerkt. Allmählich verlässt der Film die enge subjektive Perspektive und weitet den Blick auf Baubys Erinnerungen an Momente des Glücks und des Unglücks, an verpasste und ergriffene Chancen. Obwohl sich an seiner bedrängenden Situation nichts ändert, schwingt sich der Film dadurch zu immer größerer Leichtigkeit auf. Im Geiste sind ihm keine Grenzen gesetzt, erkennt Bauby und zieht daraus eine Kraft, die dieser wunderbare Film großzügig an den Zuschauer weitergibt.

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Geschrieben von

Barbara Schweizerhof

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Film“ (Freie Mitarbeiterin)

Barbara Schweizerhof studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und arbeite nach dem Studium als freie Autorin zum Thema Film und Osteuropa. Von 2000-2007 war sie Kulturredakteurin des Freitag, wechselte im Anschluss zur Monatszeitschrift epd Film und verantwortet seit 2018 erneut die Film- und Streamingseiten im Freitag.

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