Schuld sind soziale Medien

Streaming Unsere Autorin sieht in „The Social Dilemma“ vor allem kritisches Raunen. Spoiler-Anteil: 51%
Ausgabe 41/2020

Wir leben im Zeitalter der sozialen Medien, und zwar so mittendrin, dass kaum ein Zeitungsartikel, kaum ein Gespräch, egal ob über Politik, Sport oder Kultur, ohne den Bezug darauf auskommt. Mittendrin zu sein, bedeutet aber auch, dass es schwerfällt, den Überblick zu behalten, geschweige denn die Distanz, die für eine sinnvolle und nachhaltige Kritik nötig wäre. Zumal sich die Stimmungslage in den letzten 15 Jahren stark geändert hat: Am Anfang, im fernen 2004, als Facebook gegründet wurde, fühlte sich die Medienkritik für solche „Seiten“ noch gar nicht zuständig, man belächelte das als reines „Vermischtes“-Phänomen. Die Phase des Ernstnehmens begann dann mit der Euphorie, in der „Dienste“ wie Twitter als Agenten des revolutionären Fortschritts („Arabischer Frühling“) und der Vernetzung von Engagement gefeiert wurden. Kurz darauf, manifest im vermaledeiten 2016er Jahr, zog Katerstimmung ein. Seither wird mehr oder weniger alles, was schiefläuft in der Gegenwart, auf den Gebrauch der sozialen Medien zurückgeführt, von den psychischen Problemen des Einzelnen über Rechtsruck und Destabilisierung demokratischer Verhältnisse weltweit bis hin zum Genozid an den Rohingya in Myanmar. Und genau das macht auch Jeff Orlowskis für Netflix produzierter Dokumentarfilm The Social Dilemma.

Damit ist zugleich auch das Dilemma, in dem der Film steckt, beschrieben: Der Fokus liegt so sehr auf der Innenperspektive, dass ein Außen kaum mehr vorkommt. Anders gesagt: für die Insider, die Orlowski für seinen Film interviewt hat, gibt es gar keine Welt mehr jenseits der Social Media. Ausgewiesen als Entwickler und Spezialisten der einschlägigen Firmen, oft, aber nicht immer, mit dem entscheidenden Attribut „ehemalig“ vor der Berufsbezeichnung, filmt Orlowski die überwiegend weißen, überwiegend männlichen Experten in der heutigen Mode: in Foto-Set-Umgebung, mit mehreren Kameras gleichzeitig. Deren Perspektiven sind willkürlich zusammengeschnitten, sodass die Interviewten im Wechsel frontal und von der Seite zu sehen sind – ein so sinnfreier wie enervierender Effekt.

Der Seitenwechsel der Kamera ist leider der einzige Perspektivenwechsel, den der Film anbietet, denn erstaunlicherweise – oder auch nicht – sind sich die Leute vor der Kamera alle einig: Social Media sind schlimm. Dass Orlowski neben seinen Experten auch bekannte Kritiker wie Jaron Lanier (Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst), Shoshana Zuboff (Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus) und Cathy O’Neil (Weapons of Math Destruction) zu Wort kommen lässt, erscheint da fast überflüssig. Zumal weder die ehemaligen Algorithmus-Entwickler noch die kritischen Autoren Gelegenheit bekommen, tatsächlich etwas zu erklären. Stattdessen dürfen sie wiederholt und oft sagen, dass sie besorgt sind.

Zum Erklären greift Orlowski auf die etwas alberne Methode des Reenactments zurück. Wobei er verschiedene Albernheitsstufen einsetzt. Auf der einen mimen Schauspieler die typische Kleinfamilie, deren Abendessen-Idylle vom Smartphone-Gebrauch gestört wird. Die Kinder müssen dann für weitere Aspekte der Social-Media-Schädigung herhalten: Die Tochter schaut deprimiert in den Spiegel, weil sie dem Image-Druck nicht standhält; der Sohn lässt sich zu immer radikaleren Aktivitäten verleiten. In der zweiten Albernheitsstufe wird „reenactet“, wie das Verleiten geht: In einem an Star Trek erinnernden Kommandoraum stehen drei von immer demselben Vincent Kartheiser gespielte „A.I.“-Figuren, die sich „Mad Scientist“-mäßig gegenseitig dazu anfeuern, den Sohn zu diversen Aktionen herauszufordern. „Er hat zwei Tage unsere App nicht genutzt, was tun?“ – „Schick ihm eine Benachrichtigung darüber, dass seine Exfreundin mit einem neuen Freund posiert!“ Und schon ist es um den Sohn geschehen. Nächste Stufe: gewaltsamer Straßenprotest.

Die Albernheit dieser Übersetzung von algorithmischen Vorgängen in alte Horror-Science-Fiction-Motive ist dabei noch das geringste Problem. Schlimmer ist, dass Aspekte wie soziale Verhältnisse, Kapitalismus oder erstarkender Nationalismus nicht vorkommen. Statt Stoff für nötige Kritik an den Praktiken der Social Media zu liefern, bestärkt der Film eher den inhärent narzisstischen Größenwahn von Behauptungen wie: „50 Entwickler beeinflussen, was zwei Milliarden Menschen denken.“

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Geschrieben von

Barbara Schweizerhof

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Film“ (Freie Mitarbeiterin)

Barbara Schweizerhof studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und arbeite nach dem Studium als freie Autorin zum Thema Film und Osteuropa. Von 2000-2007 war sie Kulturredakteurin des Freitag, wechselte im Anschluss zur Monatszeitschrift epd Film und verantwortet seit 2018 erneut die Film- und Streamingseiten im Freitag.

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