Seelenschmelze

Streaming Die Serie „Chernobyl“ löst Begeisterung aus – nicht zuletzt in Russland
Ausgabe 24/2019

Mittlerweile ist das ein prägender Zug unserer Epoche: die Möglichkeit des informierten Zugriffs auf vergangene Ereignisse, um sie erneut Revue passieren zu lassen, in filmischer, literarischer, dokumentarischer Form. Aus Ereignissen werden so Erzählungen – und dann Narrative, die auf einmal Argumentationsgewalt für die Gegenwart entwickeln. Wie jetzt die Serie Chernobyl. Dafür hat der amerikanische Autor und Regisseur Craig Mazin mit der Akribie eines Historikers Fakten zusammengetragen, um sie dann nach den Regeln der Drehbuchkunst zu fünf Folgen Miniserie zu komprimieren. Sein Twitterfeed und ein eigens zur Serie produzierter Podcast belegen, dass der Mann über den Reaktorunfall von 1986 so ziemlich alles gelesen und gesehen hat, an das er herankommen konnte. Er war sogar selbst vor Ort. Dass ausgerechnet ein Amerikaner ein historisches Ereignis fiktionalisiert, das in der Sowjetunion stattfand (und dass er dafür bei HBO und Sky freie Hand und ein stattliches Budget bekommt), hat für sich genommen schon etwas Freakisches. Dass die Serie Wellen der Begeisterung und Diskussionen auslöst, sowohl in den USA, als auch in Russland – das ist direkt unheimlich.

Letzteres passt allerdings zum Ton der Serie. Unheimlich im Sinne von höchst beklemmend ist das Thema Tschernobyl allemal. Nicht umsonst ist eines der besten Bücher dazu, Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft“ von Nobel-Preisträgerin Swetlana Alexijewitsch, ein Klassiker für die ewige „wollte ich noch lesen“-Liste. Zum Erfolgsgeheimnis der Serie aber gehört, dass sie von den ersten Minuten an den Zuschauer in den Bann zieht. Verantwortlich dafür ist zunächst das Spiel von Jared Harris, der schon in Mad Men der fragilen Männlichkeit eines zwischen Funktion und Vorgesetzten Gefangenen so nachhaltig Ausdruck verlieh. Man sieht ihn in einer kleinen sowjetischen Küche sitzen, er redet etwas von Lügen und Schuldigen in einen Rekorder, leert den Müll aus, füttert seine Katze – und erhängt sich. Auf den Tag genau zwei Jahre, nachdem der Reaktor in Tschernobyl explodierte. Und wer eben noch glaubte, das Wichtigste zu wissen über das, was damals passiert ist, begreift, dass er in Wahrheit nichts weiß. Es ist ein echter Thriller-Auftakt.

Eine Art Schreckstarre

Harris spielt Valery Legasov, den sowjetischen Wissenschaftler, der als Kommissionsleiter die Ursachen der Tschernobyl-Katastrophe untersuchte, und der sich tatsächlich zum genannten Datum umbrachte. Schon hier nimmt sich Mazin, wie er im serienbegleitenden Podcast freimütig zugibt, einiges an künstlerischer Freiheit. Ob der genaue Zeitpunkt dieser Tat mit dem der Explosion zwei Jahre zuvor im Zusammenhang stand, ist genauso ungeklärt, wie die implizierte Annahme, dass sie der Grund war. Mazin setzt diese Dinge, er wandelt um in Narration. Erst recht, als die Serie in der Zeit zurückspringt, und unmittelbar mit der Explosion in jener Nacht vom 25. Auf den 26. April 1986 beginnt: Eine Frau spürt die Erschütterung und schaut aus dem Fenster. Im Kontrollraum des Atomkraftwerks stehen Männer in weißen Kitteln und begreifen nicht, was unter ihrer Wache gerade passiert ist. Statt mit der Lage beschäftigen sie sich eilig mit dem „cover-up“. Und in der nahe gelegenen Stadt Pripjat versammeln sich Menschen an der freien Luft, um über die unwirkliche Schönheit eines blauen Leuchtens über dem Brand im Kraftwerk zu staunen.

Als Zuschauer folgt man diesen Ereignissen in einer Art Schreckstarre. Man weiß ungefähr, was los ist – und will es doch nicht glauben. War das wirklich so?, fragt man sich in jeder Minute neu, und die Frage gilt nicht den Inszenierungsdetails, sondern dem Handeln der Figuren. Feuerwehrleute, die zum Löschen gerufen werden, ohne zu wissen, was tatsächlich brennt? Eine aufgeschobene Evakuierung, um vor dem Ausland nicht schlecht dazustehen? Lebensgefährliche Aufräumarbeiten, die von „Bio-Robotern“ (=Menschen) im 90-Sekunden-Takt geleistet wurden?

Der Abgleich mit den historischen Fakten ist bei allen verfilmten wahren Geschichten ein wichtiger Teil der Rezeption. Aber zuerst sei hier noch einmal der Fiktion Tribut gezollt: Jede einzelne Folge von Chernobyl ist bedrückend und fesselnd, macht hilflos und gleichzeitig ungeheuer neugierig. Angefangen vom präzis getimten Erzählrhythmus, der von Folge zu Folge in größeren Zeitschritten vorankommt, bis hin zu den treffenden Porträts der oft so selbstlos handelnden „Liquidatoren“, ist die Serie um so vieles besser, als man es hätte erwarten können von einem Autor, dessen „claim to fame“ die Drehbücher zu zwei Hangover-Sequels sind.

Mazin gelingt mit Chernobyl nicht nur eine sich in die Seele krallende Darstellung einer Katastrophe, die noch so viel schlimmer hätte kommen können. Er schildert den Unfall als Versagen eines Zusammenhangs, in dem die Besonderheiten des real-existierenden Sozialismus ihren Teil beitrugen, aber längst nicht alles erklärende Ursache sind. Die Serienform gestattet ihm, verschiedene Stränge der Schuld aufzudröseln: Ehrgeiz, Unkenntnis, ein verheerender Anreiz zur Verheimlichung von Fehlern, menschlicher und technischer. „Das Gebiet abriegeln, keine Informationen nach draußen lassen“, weist ein Komiteevorsitzender zunächst an, der Schutz der Menschen kommt hier nicht vor, nur der Schutz der „Frucht ihrer Arbeit“.

Gleichzeitig würdigt Mazin die unzähligen kleineren und größeren Heldentaten besagter „Liquidatoren“, jener rund 800.000 Menschen, die in den Tagen, Monaten und Jahren nach dem Unfall sich in Gefahr begaben, um die schrecklichen Folgen der ausgetretenen Radioaktivität einzudämmen. Er nimmt sich die künstlerische Freiheit, etwa die Bergarbeiter, die einen Tunnel unter dem Reaktor graben mussten für den Fall einer Kernschmelze, als furchtlose, Witze reißende Draufgänger zu zeigen. Und setzt ihnen so das schönste Denkmal. Denn egal ob nun sowjetische Bergarbeiter ihren Vodka schon vor oder erst nach dem Abduschen des Kohlestaubs tranken, ob sie ganz nackt oder in Unterhosen in der Reaktorhitze arbeiteten (zu beiden Punkten wurde heftig getwittert) – man gönnt ihnen diese Form der Glorifizierung, wie sie eben nur Drehbücher können. „Was soll ich ihnen sagen?“, fragt Legasov den von Stellan Skarsgård gespielten Funktionär Shcherbina. Und der antwortet: „Die Wahrheit. Diese Männer arbeiten im Dunkeln. Sie sehen alles.“

Die Russen haben einen eigenen Begriff für die Klischees, die Ausländer benützen, um Russen darzustellen: „Kljukva“ – „Preiselbeere“ wird der Mix aus Bären, Basiliuskathedrale und Pelzmützen genannt, den der Westen so gern zur Russenillustration abruft. Dass Chernobyl statt auf Klischees auf Authentizität in der Ausstattung setzt, auf die Korrektheit von Frisuren, Kleidung, gerüschten Vorhängen, Teetassen und Mülleimern – das löste fast eine Schockwelle in Russland aus. Die ersten Rezipienten nahmen es fast als Liebeserklärung. Für wen anders als für sie, die Zuschauer hinter dem ehemaligen eisernen Vorhang, haben sich die Serienproduzenten diese Mühe gemacht, Dinge zu rekonstruieren, die kein Brite und kein Amerikaner als richtig oder falsch einordnen könnte? Wenn schließlich Dinge kritisiert werden wie ein falsches Halten von Gewehren – amerikanisch statt sowjetisch – dann muss eine Menge drum herum stimmen, dass es auffällt.

Eine Erzählung zieht Interpretationen nach sich: Die russisch-amerikanische Publizistin Masha Gessen meinte im „New Yorker“, dass Mazin in seinen Details meist richtig liegt, mit der Stoßrichtung der Erzählung aber, die sie in der Schuldzuweisung an einzelne Männer ausmacht, in die Irre geht. Was sich in den russischen sozialen Medien ablesen lässt, ist aber eine andere Interpretation: Dort melden sich die Liquidatoren und ihre Angehörigen, mit dem stolzen Gefühl, dass endlich, endlich sich jemand für das interessiert, was sie geleistet und durchgemacht haben.

In den USA traf Chernobyl einen anderen, gerade sehr empfindlichen Nerv: dass der Unfall als Folge eines Systems von Lügen gezeigt wird, deren Nachwirkungen wie die Radioaktivität selbst, unsichtbar und lange ihren Schaden entfaltet. In Russland, wo die staatlichen Medien ihren Unmut ob der Popularität einer amerikanischen Serie zu „ihrer“ Geschichte kaum verbergen können, kündigte der Sender NTV eine eigene Serienversion noch in diesem Jahr an. Angeblich soll es darin um die Jagd auf CIA-Agenten gehen, die es auf das Atomkraftwerk von Tschernobyl abgesehen hatten.

Info

Chernobyl Craig Mazin USA/GB 2019, 5 Folgen, Sky

The Chernobyl Podcast Peter Sagal, Craig Mazin, HBO 2019

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