Sehnsucht nach Normalität

Gewalt und Tod Das 11. Festival des osteuropäischen Films in Cottbus verlangt dem Zuschauer viel ab

In Russland wurde vor kurzem mit viel Medientrubel ein Drehbuch-Wettbewerb ausgelobt; Filmemacher aller Generationen waren aufgefordert, Projekte einzureichen unter dem Motto "Das normale Leben in einem normalen Land". Es sollten Filme gefördert werden, in denen einmal nicht die Mörder die Helden sind, sondern "die Studentin, der Humanistischen Universität, die ihr Stipendium am Geldautomaten erhält, zum Urlaub nach Spanien fährt und in Frankfurt am Main umsteigt". Was sich für westliche Ohren wie der Versuch anhört, das langweiligste aller Drehbücher zu finden, stellt im osteuropäischen Kontext ein aufregendes, weil unerreichtes Ideal dar. Denn "normal" ist hier ein emphatischer Begriff, der keineswegs das Durchschnittliche, das Übliche bezeichnet, sondern dessen Gegenteil: jene "zivilen" Verhältnisse, von denen sich die neuen Demokratien trotz gegenteiliger Versprechen weit entfernt sehen.

Normal people lautete denn auch der Titel eines jugoslawischen Films, der in Cottbus präsentiert wurde und auf seine Weise eine Antwort für die Betreiber des russischen Wettbewerbs enthielt. Er zeigt eine Gruppe von Menschen in den letzten Monaten des Milos?evic´-Regimes. Zwar ist der Krieg vorbei, aber es sieht so aus, als würde er nie zu Ende gehen, das Land verharrt am Nullpunkt. Ob sie einander Freund oder Feind sind, lässt sich nur schwer ausmachen - die Erosion der gesellschaftlichen Werte ist so weit fortgeschritten, dass sich das eine vom anderen kaum unterscheiden lässt. Am Ende schlägt ein Mann eine Frau mit bloßen Fäusten tot. Ihr Liebhaber findet sie, und während er bittere Tränen über ihren Leichnam vergießt, beschimpft er sie mit den schlimmsten Worten. Davon, "normale Menschen" zu sein, können diese Figuren nur träumen.

Das Festival des osteuropäischen Films in Cottbus verlangt viel von seinen Zuschauern. Depression, Tod, Gewalt und Zerstörung - kaum ein Film, der aus diesem düsteren Themenkreis ausbricht, kaum ein Film, in dem nicht die Mafia eine wesentliche Rolle spielt und kaum ein Film, in dem keine Frauen geschlagen, vergewaltigt oder getötet werden. Für die Touristikbüros der betroffenen Länder muss das Festival eine schlimme Anti-Werbung darstellen, und auch wenn man weniger vorschnell von der filmischen Fiktion auf die Wirklichkeit schließt, so kann man nach fünf Tagen die Initiatoren des russischen Wettbewerbs doch besser verstehen: Man sehnt sich nach einem Film ohne Killer, Prostituierte oder Drogenabhängige.

Vielleicht hat ja die gleiche Sehnsucht die Cottbuser Jury veranlasst, dem albanischen Film Slogans von Gjergj Xhuvani in diesem Jahr den Hauptpreis zu verleihen. Slogans spielt im Albanien der Enver-Hodscha-Ära und die Schrecken der modernen Zeiten sind noch in weiter Ferne. Gleich zu Beginn fühlt man sich in einen "guten alten" Klassiker des sozialistischen Realismus versetzt: Ein junger Lehrer kommt aus der Hauptstadt Tirana in ein Dorf in den Bergen. Bald jedoch wird deutlich, dass die Mächtigen der kleinen und übersichtlichen Dorfgemeinschaft ein so merkwürdiges wie wirkungsvolles Instrument nutzen: Jene Parolen, die auf Parteibefehl mit gesammelten Steinen in die Berghänge geschrieben werden müssen. "Der amerikanische Imperialismus ist ein Papiertiger" etwa, oder auch "Enver = Partei". Mit den Buchstaben wird im wörtlichen Sinne Politik betrieben - wer sich brav verhält, bekommt die kurzen Sprüche, wer sich dem Vorsitzenden entgegenstellt, muss schon mal einen ganzen Hang bestellen. Der Film Slogans stimmte nostalgisch - nicht nach den hier gezeigten Zeiten, sondern nach dieser Form der leisen, abgründigen Farce, die mit ihren gewaltlosen Mitteln die strukturelle Gewalt um so wirkungsvoller zur Darstellung bringen kann. Dass die "Regime-Kritik" des Films heute, zehn Jahre nach der "Wende" in Albanien zu spät kommt, wird aufgewogen von der meisterlichen Inszenierung, die in Erinnerung bringt, dass dies einst eine Spezialität des osteuropäischen Kinos war: die Groteske, die die existentielle Absurdität aufzeigt mit feinem und doch unversöhnlichem Humor.

Auch der Film Die Rebellen von Filip Renc? versetzte den Zuschauer in nostalgische Stimmung. Sommer ´68 in der Tschechoslowakei, die Mädchen tragen Minikleider in Popfarben, die Jungs schwarze Brillengestelle. Es wird getanzt und gesungen, in Kulissen, die dem Fernsehen von damals nachempfunden sind und nach Liedern der Zeit, die ins Tschechische übertragen wurden. Das hat seinen Witz und scheint zuerst von fast erschreckender Harmlosigkeit zu sein. Dann tauchen die "Rebellen" auf, drei Jungs, die desertiert sind und nun in den Westen fliehen wollen. Während sie sich noch ganz vorhersehbar mit den drei Mädchen, passend nach Haarfarben und Körperbau, paaren, kommt fast unmerklich und doch unaufhaltsam der bittere Ernst in dieses Retro-Musical. Und obwohl das historisch bedingte Ende, der Einmarsch, eine kaum vergessene Tatsache ist, erschüttern in diesem Musical die sowjetischen Panzer - und das Schlussbild: Der Held im Gefängnis - um so mehr, als man damit nicht mehr gerechnet hat. Fast fühlt man sich betrogen, kann man doch kaum glauben, dass ein junger Filmemacher zuerst so stilgerecht, so ästhetisch-nostalgisch beginnt, um dann seine Geschichte so vollkommen gegen das Genre enden zu lassen, das doch unbedingt ein Happyend, zumindest eine Hoffnung auf Erlösung verlangt. Trotz des süßlichen Charmes des Sechziger-Jahre-Pop steht auf diese Weise am Schluss ein klares "Nicht versöhnt", das auch den skeptischen Zuschauer zwingt, diesen Film retrospektiv ernst zu nehmen.

Rebellen wurde in der Reihe "Nationale Hits" in Cottbus vorgestellt, jener Sektion, in der das Bedürfnis nach Leichtigkeit und Humor wegen des populistischen Charakters der Kassenschlager noch am ehesten befriedigt wird. In dem jugoslawischen Film Thunderbirds geschieht das durch Selbstironie; Radivoje Andric´ schildert mit Low Budget-Mitteln eine Nacht unter Freunden in Belgrad. Thunderbirds spielt in der Zeit nach Milos?evic´, aber eine wirkliche Verbesserung der Zustände ist nicht sichtbar: Die Häuser sind Ruinen, die Polizisten bestechlich und die ehemals besten Freunde Verbrecher. Von der kleinen Gemeinschaft, die sich im Laufe der Nacht in einem Auto versammelt, geht jeder einzeln bewusst das Risiko ein, sich in dieser kaputten Welt vollkommen lächerlich zu machen, indem er trotzdem an seinen Träumen festhält. Das verleiht diesem Film einen clownesken Charme, der die Trostlosigkeit zwar nicht ausblendet, ihr aber nicht alle Herrschaft über die Figuren zugesteht.

Der russische Beitrag zur Hitreihe, Schwestern von Sergej Bodrow, zeigte dagegen ganz das heutige Russland-Klischee: Erbarmungslose Mafiosi wollen die kleine Tochter eines ehemaligen Mitglieds entführen. Die missachtete ältere Stiefschwester, selbst Sportschützin, soll nun auf einmal das Leben ihrer verwöhnten kleinen Schwestern retten. Es sind die beiden Hauptdarstellerinnen mit ihren wunderbar trotzigen Gesichtern, die diesen ansonsten sehr grob gestrickten Film sehenswert machen. Gut und Böse sind klar verteilt, weshalb auch die Richtigen am Ende überleben, und selbst wenn es ein Genreklischee ist, ist man für diesen Lichtblick doch dankbar.

Auch die Schwestern zeigen also alles andere als "das normale Leben in einem normalen Land"; der Film macht aber zugleich deutlich, warum diese Aufforderung daneben zielt: So fiktiv die Handlung, so reell sind doch ihre Charaktere und Konflikte. Das Problem der "düsteren" Filme ist nicht ihre Düsternis, sondern die Wahrhaftigkeit, mit der diese gezeigt wird. Ein Meisterwerk in dieser Hinsicht stellte der slowenische Film Brot und Milch dar, das Regie-Debüt des Schauspielers Jan Cvitkovic´, der als launiger Langzeitstudent in Müßiggang vor zwei Jahren schon einmal den Hauptpreis in Cottbus bekommen hat. In Brot und Milch wird Ivan nach einem Alkoholentzug aus der Klinik entlassen. Seine Frau mustert ihn skeptisch und schickt ihn einkaufen. Im Laden schreitet er an den Flaschen vorbei und streitet mit der Kassierin um seine Menschenwürde, und dennoch geschieht wenig später das Vorhersehbare: Er trifft einen alten Freund und sie gehen in die Kneipe. Eine Zeit lang leistet er Widerstand, unberührt steht das Schnapsglas vor ihm, und dann trinkt er plötzlich doch. Aber das ist erst der Anfang des Unglücks, an dessen Ende die totale Desintegration seiner Familie steht. Brot und Milch ist eine unerbittliche Studie über den Zerfall eben jener "Normalität", deren Darstellung sich nicht erzwingen lässt.

Auch No man´s land von Danis Tanovic?, der dieses Jahr den Publikumspreis gewann, ist so ein Film: In fast amerikanischer Manier wird hier die wechselvolle Geschichte eines Schützengrabens erzählt, in dem Serben und Bosnier aufeinandertreffen. Unversöhnlich verlangen sich die Kriegsgegner mit Waffengewalt im Wechsel das Geständnis ab, den Krieg begonnen zu haben. Um Hilfe für den Verletzten, der auf einer Mine liegt, zu bekommen, wenden sie sich an die Unprofor-Truppen und lösen eine Kette von Ereignissen aus, an deren Ende es nur Verlierer gibt: Der französische Capitain kann das Blutbad nicht verhindern, die engagierte Journalistin kommt nicht an ihre Informationen, der britische General gaukelt die Rettung nur vor und der Verletzte bleibt schließlich sich selbst überlassen. Es ist der ganz normale Krieg.

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