Smiley face, senden!

Fernsehen In der Spielshow „The Circle“ konkurrieren Menschen wie in Quarantäne ums soziale Ranking
Ausgabe 12/2020

Eine Situation, die sich fast zu dicht an der Realität dieser Tage anfühlt: Menschen alleine in ihren Wohnungen; in der Küche, auf dem Sofa, im Bad; sie kochen, sie essen, machen einen kleinen Work-out oder pudern sich das Gesicht; ab und zu führt der eine oder die andere einsam im Apartment einen kleinen wilden Tanz auf. Vor allem aber reden sie. Mit wem? Mit den Bildschirmen, die sich in diversen Ecken und Enden ihrer Wohnungen befinden. Der Duktus dabei ist eigentümlich deutlich und immer etwas zu laut. Bald begreift man, dass sie nicht mit den Bildschirmen sprechen, sondern lediglich per Sprachsteuerung Befehle erteilen. „Privater Chat mit Joey!“, ruft etwa Shubam, ein 23-jähriger Kalifornier mit indischem Migrationshintergrund, in den Bildschirm hinein. Und fängt dann an zu diktieren: „Hey bro, wie geht’s dir heut Morgen so? Gestern Abend – Mann, mir blieb fast das Herz stehen! Winky face! Absenden!“ Dann zeigt die Kamera besagten Joey, 25, einen fitnessbesessenen Italo-Amerikaner aus New York, auf dem Sofa seines Apartments, das sich lediglich im Farb-Design von dem Shubams unterscheidet. Joey liest Shubams „bro!“-Botschaft laut von seinem Bildschirm ab und reagiert darauf mit einer Intensität, die auf den zufälligen Zuschauer befremdlich wirken muss. Fäuste in die Luft stoßend diktiert Joey eine Antwort, irgendwas mit Herzinfarkt und „Mindblow“-Emoji.

Die beiden haben sich gerade verbrüdert in einem Wettbewerb, der die Regeln eines Brettspiels wie Malefiz mit dem dystopischen Entwurf einer Black-Mirror-Folge kreuzt. Acht Menschen kämpfen hier, isoliert in ihren Wohnungen und mit der Außenwelt nur über Chats kommunizierend, um die beste Bewertung ihres Auftritts, der aus wenigen Foto-Posts und ebenjenen Chats besteht. Nicht alle sind das, was sie zu sein vorgeben. Die zwei Personen, die jeweils am besten abschneiden, dürfen als „Influencer“ darüber entscheiden, welcher Teilnehmer als Nächstes blockiert wird, das heißt rausfliegt. Das Ganze scheint im höchsten Grade hirnrissig, sinnentleert, lächerlich – es macht aber absolut süchtig. Mindblow-Emoji!

Popkultureller Karneval

The Circle heißt die Reality-TV-Show, die Netflix Anfang Januar online stellte und die als weiterer Baustein im Großprojekt fungiert, dem „linearen Fernsehen“ den Rang abzulaufen. Nun scheiden sich am Reality-TV die Geister. Und zwar in die, die noch immer glauben, erklären zu müssen, dass es sich bei „reality“ nicht um dokumentierte Wirklichkeit handle, sondern um manipulierte und gescriptete Laiendarstellungen. Und die, die im vollen Wissen darum trotzdem oder erst recht schauen. Wer ein paar Staffeln Germany’s Next Topmodel hinter sich gebracht hat, mag sich in der Modebranche keinen Deut besser auskennen als vorher, besitzt jedoch tiefe Einblicke in die Widersprüchlichkeit heutigen weiblichen Selbstbewusstseins. Denn das Verhältnis von Authentizität und Künstlichkeit, das den Reality- und Casting-Formaten innewohnt, ist komplexer, als es die herkömmliche Ideologiekritik erfasst, die immer nur das Affirmative und Stereotypen-Bekräftigende am Wirken sieht. Sind Shows wie der Bachelor schon in ihrer Prämisse blödsinnig? Aber natürlich.

Doch wie bei Popkulturphänomenen oft, steht eine Reality-Show im Zenit ihrer Popularität für viel mehr als nur sich selbst: Das weite Spektrum von kritischer und ironischer Rezeption, von „Guilty Pleasure“-Zuschauern und obsessiven Fans ergibt zusammen eine Art Karneval, der gesellschaftliche Fragen formuliert, für die die hehre Kunst noch kein Genre, kein Format gefunden hat.

Was manipuliert und was „authentisch“ ist, wird in The Circle (das auf ein in Großbritannien für Channel 4 entwickeltes Format zurückgeht) selbst zur Spielfrage. Der Vorwurf, ein „catfish“ zu sein, also etwa dicker, älter oder männlicher als das, was das Profil-Foto verspricht, wird instrumentell eingesetzt, wenn es darum geht, andere im Beliebtheitsranking auszustechen. Aber dann wiederum, wenn sich die 37-jährige, im wahren Leben glücklich liierte und vital beleibte Lesbe Karyn nach ihrem Rauswurf outet – während des Spiels posierte sie als 27-jährige, schlanke, bisexuelle Single-Frau Mercedeze –, bekommt ihre Erklärung Raum und stößt dementsprechend auf Empathie und Respekt unter ihren Mitstreitern. Sie habe es satt gehabt, immer nach ihrem „wahren“ Aussehen beurteilt zu werden, gibt Karyn zu Protokoll. Und die sozialen Medien mit ihren Möglichkeiten eines wohldurchdachten, gleichsam kuratierten Auftritts werden in dieser Perspektive doch noch einmal zum Medium kreativer Selbsterfindung.

Ein anderer Teilnehmer, der 32-jährige Alex, Typ nerdiger Normalo, nutzt die Profilbild-Maskerade für genau die gegenteilige Strategie: Er postet Bilder eines blonden Jungmanns namens Adam, mal den perfekten Sixpack ausstellend, mal mit einem süßen Hund in den Armen. Statt eigenes Begehren führt Alex die Vorhersehbarkeit der Reaktionen vor, die ein „sexy Typ“ wie Adam auslöst. Ein weiterer Teilnehmer versetzt sich unterdessen für die Dauer des Spiels in die Haut seiner Freundin – und macht überraschende Erfahrungen. Indem The Circle das reiche Spektrum der Betrugsmöglichkeiten mehr katalogisiert als anprangert, entzaubert die Show zugleich die eingesetzten Mittel – die pseudo-ehrlichen Bekenntnisse, das provokative sexuelle Innuendo, den Einsatz von nackter Körperlichkeit und gefilterten Gesichtern – als bloße Rhetorik mit anderen Mitteln. Und dann hat die Serie noch einen konkreten Lerneffekt: Diverse Emojis werden endlich beim Namen genannt: Herz aufs Auge!

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