Vielleicht ist der Schock deshalb so groß, weil es ein Kinderspiel ist. Eines von jener dankbaren Sorte, die keine besondere Ausrüstung braucht, ein bisschen freier Rasen reicht. In Deutschland hat das Spiel verschiedene Namen, „Ochs am Berg“, „Donner, Wetter, Blitz“ oder „Zeitung lesen“, listet Wikipedia auf. Der „Ochs“ steht vorn, mit dem Rücken zu den anderen, und wenn er sich überraschend umdreht, müssen alle still stehen – wer sich noch bewegt, scheidet aus. Man hat es als unschuldigen Spaß in Erinnerung. Und genau deshalb kann man die Panik so gut verstehen, die ausbricht, als die Kandidaten in Squid Game realisieren, dass diejenigen, die sich noch bewegen, wenn sich der Kopf der Roboterpuppe umdreht, in einem sehr radikalen Sinne „ausscheiden“: Sie werden erschossen.
Wenn man es so erzählt, klingt es fast billig. Wie auch die Gesamtprämisse der koreanischen Serie, in der sich 456 Menschen wegen eines in Aussicht gestellten Millionengewinns zur Teilnahme an einer Art „Spiele ohne Grenzen“ überreden lassen. Gab es das nicht schon in vielen Filmen oder Serien? Im japanischen Genre-Hit Battle Royale (2000), in den Tribute-von-Panem-Blockbustern oder auch in dem von Wolfgang Menge geschriebenen deutschen Fernsehfilm Das Millionenspiel von 1970, um nur ein paar aufzuzählen. Dass wir uns gern zu Tode amüsieren und dass Geld egoistisch macht, ist weder neu noch speziell südkoreanisch. Dennoch entwickelt Squid Game einen ganz eigenen Sog, der die wenigsten vor dem Ende der neunten und bislang letzten Folge wieder loslässt.
Erfolgreicher als „The Witcher“
Dass dem so ist, dafür spricht der internationale Erfolg der Serie, der als eigenständiges Phänomen inzwischen fast noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht als ihr Inhalt. Squid Game, am 17. September weltweit auf Netflix gestartet, landete keine zwei Wochen später in über 90 Ländern auf Platz 1 der Netflix-Charts. CEO Ted Sarandos stellte da schon in Aussicht, dass die Serie die bisherigen Megahits des Streamers wie The Witcher und Bridgerton auf hintere Plätze verweisen könnte. Es muss daran erinnert werden, dass Netflix keine überprüfbaren Zuschauerzahlen bekannt gibt und eine Serie als „gesehen“ zählt, wenn ein Konto darauf für länger als zwei Minuten zugreift. Dass der Erfolg von Squid Game keine bloße Erfindung sein kann, zeigt sich jedoch auf Social Media. Squid Game ist da „talk of the town“ auf eine Weise, wie es ein kulturelles Phänomen ohne „Cancel Culture“-Kontext nur selten schafft. Man zitiert ihn nur ungern, aber wenn selbst Jeff Bezos einen Tweet dazu absetzt, dass es „inspirierend“ sei, wie Reed Hastings und Ted Sarandos mit Netflix ihre „Internationalisierungs-Kampagne“ zum Erfolg führen, dann ist vielleicht wirklich was passiert.
Der Hype lässt sich jedenfalls nicht allein mit der „antikapitalistischen“ Botschaft der Handlung erklären. Zentraler Held ist Gi-hun (Lee Jung-jae), ein typischer Loser, wie man ihn aus Dutzenden Filmen zu kennen meint: einer, der es nie zu was gebracht hat, der seine alte Mutter beklaut und das Geld auf die Rennbahn trägt, bevor er vom Rest ein notdürftiges Geschenk für seine kleine Tochter kauft, die bei seiner neu verheirateten Ex aufwächst. Als ein Unbekannter in der U-Bahn ihm für ein harmlos scheinendes Geschicklichkeitsspiel Geld anbietet, kann Gi-hun nicht widerstehen. Wenn er verliert, muss er sich ohrfeigen lassen. Aber wenn der ewige Verlierer Gi-hun etwas kann, dann ist das, Ohrfeigen einzustecken. Mit knallrotem Gesicht, aber auch mit einem kleinen Barvermögen kehrt er am Abend zur Mutter zurück. Und am nächsten Tag ruft er die Nummer auf der geheimnisvollen Karte an, die ihm mitgegeben wurde. Wenig später wacht er, nun in einen Trainingsanzug mit Nummer gekleidet, in einem riesigen Schlafsaal auf.
Die Stimmung dort ist noch einigermaßen aufgeräumt, Gi-hun lernt ein paar Mitspieler kennen und entdeckt sogar bekannte Gesichter unter ihnen. Da ist Sang-woo (Park Hae-soo), der im gleichen Viertel wie er aufgewachsen ist, es aber an die Uni und in einen prestigeträchtigen Investment-Job geschafft hat. Und da ist Sae-byeok (Jung Ho-yeon), die ihn noch wenige Stunden zuvor beklaut hat. Dann werden sie zum ersten Spiel gerufen, dem eingangs beschriebenen „Ochs am Berg“, das in Korea „Rotes Licht, grünes Licht“ heißt. Gi-hun überlebt nur, weil ihn im entscheidenden Moment Mitspieler Ali (Anupam Tripathi) am Kragen festhält. Gleichermaßen traumatisiert wie empört über die unerwartet ernste Wendung des Kinderspiels – über die Hälfte der Teilnehmer liegt erschossen auf dem Feld –, fordert Gi-hun den Abbruch des Spiels. Die spielregelkonforme Abstimmung daraufhin kann Gi-huns Lager sogar gewinnen. Völlig erschüttert und mit leeren Taschen fahren sie nach Hause. Aber als Zuschauerin weiß man natürlich, dass sie alle zurückkehren werden.
Mit plakativer Deutlichkeit schildert die Serie die jeweiligen sozialen Notlagen der Teilnehmer: Ali, der „Gastarbeiter“ aus Pakistan, wird von seinem Boss um den Lohn betrogen; Taschendiebin Sae-byeok stammt aus Nordkorea und hat auf der Flucht ihre Eltern verloren; Sang-woo hat Geld veruntreut und wird von der Polizei gesucht; Spieler Nummer 1, der älteste der Teilnehmer, leidet wegen eines Gehirntumors unter Demenzschüben. Als sie sich zum erneuten Spielbeginn wieder im Riesenschlafsaal einfinden, steht eine neue Ehrlichkeit im Raum. Sie alle wissen, wie nötig sie es haben.
Dass die Lage der Spieler von Anfang an so unverstellt trostlos dargestellt wird, trägt zur internationalen Übertragbarkeit bei: Armut, Überschuldung, Entrechtetsein sind leider sehr universelle Phänomene. Auch wenn dem nichtkoreanischen Zuschauer einiges entgehen mag, sind die Konflikte doch von einem elementaren, fast archaischen Charakter; es gibt auch keine popkulturelle Verschleierung, die den Schrecken zum großen Spektakel aufwertet. Die Gewalt, die von Folge zu Folge zunimmt, blutiger und direkter wird, ist gleichsam schnörkellos.
Jedes Spiel offenbart auf seine Weise etwas Neues sowohl über die Teilnehmer als auch über die Verfasstheit der Welt, in der wir leben. Das „Zuckerwabenspiel“ etwa illustriert so simpel wie schlagend, was Chancenungleichheit bedeutet: Die einen müssen lediglich ein Dreieck aus einem Zuckerkeks herausbrechen, während andere die Form eines Regenschirms ausstechen sollen. Beim „Tauziehen“ kommt es auf die Körperkraft an – der Punkt, an dem es mit der Gleichberechtigung vorbei ist. Keiner will Frauen als Teammitglieder. Aber ausgerechnet der Senior, auch er nicht gerade begehrt, erklärt seinen entmutigten Kameraden, dass ein taktisches Vorgehen viel wichtiger sei als reine körperliche Stärke. Als er recht behält, keimt eine kleine Hoffnung auf: Wenn „Gemeinsam sind wir stark“ noch gilt, dann gibt es vielleicht doch ein gutes Ende? Aber so gründlich wie in Squid Game ist das Motiv der „Bande von Außenseitern“, die „against all odds“ das Böse besiegt, selten zerstört worden. Und das beim einfachsten aller Spiele: dem Murmelspiel! Wenn jeder gegen jeden antreten muss, ist es vorbei mit der Solidarität. Wobei Squid Game, an der Stelle merkt man es kaum noch, weil man so gefesselt ist, völlig ohne „comic relief“ auskommt. Die schadenfrohe Bemerkung beim Sprung in den Abgrund – so etwas gibt es hier nicht. Jeder Tod ist eine Tragödie; selbst den Bösewichten, auch sie Getriebene, gönnt man ein besseres Ende. In der Kombination von moralischer Zweideutigkeit, die sich durch alle Figuren zieht, und ungeschminkter Darstellung liegt die Anziehungskraft von Squid Game – die Serie wirkt eben gerade nicht wie ein „Spiel“. Als Zuschauer fühlt man sich auf eine Weise ernst genommen und direkt angesprochen, wie es bei US-Serien mit ihrem Anspielungsreichtum und ihren Genre-Verspieltheiten selten geschieht.
Zur Kapitalismuskritik mag Squid Game nichts völlig Neues beitragen. Was aber die „filmkulturelle Hegemonie“ der USA anbelangt, lässt der weltweite Erfolg einer koreanischen Serie aufmerken. Schon mit Haus des Geldes und Lupin ging die Netflix-Strategie auf, Synchronfassungen und Untertitelung in massiver Breite anzubieten und zu popularisieren. Die multiregionale Verwurzelung könnte sich noch als größter Trumpf des Streamers erweisen. Der nächste Hit kommt vielleicht aus Indien oder Nigeria. Und man sollte sich schon dafür wappnen, bald diese Form von „kultureller Aneignung“ zu kritisieren.
Info
The Squid Game Hwang Dong-hyuk Südkorea 2021, Netflix
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