Sport und Demokratie

USA Müssen Wahlen wie Fußball sein?

Werden Sie jetzt bitte nicht schnippisch«, soll Gore zu Bush gesagt haben, als dieser nicht glauben wollte, dass dieser ihn anrief, um das Eingeständnis seiner Niederlage zurückzunehmen. Rein menschlich gesehen hätten wir viel Verständnis dafür, wenn Bush in dieser Situation geradezu pampig geworden wäre. Als erbarmungslos vergnügungssüchtige Zuschauer können wir aber eine gewisse Schadenfreude über den Ausgang der Präsidentenwahl kaum verbergen. Gerade hatten wir uns damit abgefunden, dass wieder ein George Bush die USA regieren würde, hatten uns mit dem Argument getröstet, dass der Unterschied zwischen den Kandidaten sei ja sowieso verschwindend gering, hatten medienkritische und kulturpessimistische Gedanken gesammelt zu der immer weiter zunehmenden Kommerzialisierung dieser Wahl, ihrer Entpolitisierung und was der bedenklichen Entwicklungen so mehr sind. Auf einmal - die ARD beendete gerade ihre mühevolle Live-Übertragung und wir mussten umschalten - kam alles ganz anders.

Aus der langweiligen Partie ist doch noch ein spannendes Match geworden. Es ist ungefähr so, als sei im Endspiel einer Weltmeisterschaft in letzter Minute das Ausgleichstor gefallen. Die Phase der erneuten Auszählungen lässt sich folglich mit der klassischen Verlängerung vergleichen. Wobei kurioserweise die eine Seite gerade darauf besteht, sie habe schon längst den »sudden death«-Treffer, der auch beschönigend »golden goal« genannt wird, erzielt. Sollten sich nach den ganzen »recounts« schließlich die Gerichte ins Verfahren einschalten, gehen uns immer noch nicht die Metaphern aus: Dann beginnt die dramatische Phase des Elfmeterschießens, die jeder Sportsfreund als harte, einerseits zwar ungerechte und unschöne, andererseits aber faire Siegerermittlung anerkennt.

Wie im richtigen Sport, wo man viele Regeln erst dann kennenlernt, wenn sie angewendet werden, haben wir durch den knappen Ausgang in Florida Dinge über die Präsidenten-Wahl erfahren, die wir uns zu fragen nicht nur nicht getraut hätten, sondern vielmehr: die uns nie in den Sinn gekommen wären. Dass wie nahezu überall in der Welt auch in den USA Wahlurnen verschwinden und Wähler »entmutigt« werden zum Beispiel. Dass der Präsident von Wahlmännern gewählt wird, die nur zum Teil gesetzlich an ihr Votum gebunden sind. Dass in jedem Bundesstaat auf seine Weise gewählt wird. Und dann die ganzen technischen Details: Dass Wahlzettel nicht angekreuzt, sondern gelocht und maschinell ausgezählt werden etwa. Letzteres hat uns fast wehmütig an das Amerika-Bild unserer Kindheit denken lassen: Als bei uns der Kuchenteig noch von Hand gerührt wurde, stand die amerikanische Hausfrau lächelnd neben ihrer Küchenmaschine, wie überhaupt die Amerikaner damals in erster Linie für ihren Pragmatismus bewundert wurden, der sich vor allem in der souveränen Handhabung verschiedenster Maschinen ausdrückte.

Wie im richtigen Sport wird bei dieser Wahl von den Mitspielern sportliches Verhalten gefordert. Der Inbegriff sportlichen Verhaltens ist es, ein guter Verlierer zu sein. Deshalb forderten Bush und mit ihm viele Meinungsmacher von Gore, er solle sich geschlagen geben. Die Unregelmäßigkeiten bei der Stimmabgabe und der Auszählung werden also behandelt wie die Fehlentscheidungen der Schiedsrichter in der Bundesliga: Sie zählen und sind anzuerkennen, auch wenn noch so viele Kameras sie als falsch belegen.

Wie lange diese Regel im Fußball noch Bestand hat, gilt als ungewiss. Denn die »Demokratisierung« dieser in den USA bislang nicht besonders populären Sportart schreitet bei uns unaufhaltsam voran: eines Tages werden wohl die Zuschauer im Stadion und an den Fernsehschirmen darüber abstimmen, welcher Spieler ausgewechselt werden soll. Spätestens dann haben sich die Unterschiede der Bereiche Sport und Politik restlos verwischt. Bislang jedoch lassen sie sich mit einigem Nachdenken noch auseinanderhalten.

»Wenn Wahlen was verändern würden, wären sie verboten«, war ein vielzitierter Spruch unserer radikaleren bundesrepublikanischen Jugend. Die Alternativlosigkeit des Kandidatenpaares Bush/Gore ließ ihn fast wieder aktuell erscheinen. Der Streit um den Wahlausgang dagegen bringt die »essentials« der Demokratie ins Bewusstsein zurück: Anders als beim Sport zählt am Ende nicht allein das Ergebnis, egal ob durch Verlängerung oder Elmeterschießen zu Stande gekommen, sondern wie es herbeigeführt wurde. Allein dieses »wie« unterscheidet demokratische Wahlen von anderen.

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