Tanz den Schrotthändler

Kino Obdachlose Frauen sind zur Unsichtbarkeit verurteilt. Louis-Julien Petit widmet ihnen mit „Der Glanz der Unsichtbaren“ einen rundum erfreulichen Film
Ausgabe 41/2019

Eine Erklärung dafür, warum die, um die es in Der Glanz der Unsichtbaren geht, unsichtbar sind, wird in Form einer kurzen Montage mitten im Film gegeben: Parkbänke, bei denen aufmontierte Bügel das Liegen verhindern; Fenstersimse, auf denen Splitter einbetoniert sind; spitze Minizäune überall dort, wo man auf die Idee kommen könnte, sich hinzusetzen. Der Zweck all dieser Zacken und Kanten ist einzig und zuvorderst der, Obdachlose und Bettler davon abzuhalten, sich hinzusetzen und mit ihren Leibern, Gerüchen, ihrer sichtbaren Not, den Konsumenten den Spaß zu verderben. Sie sollen unsichtbar sein. Ein weiterer Grund für die Unsichtbarkeit speziell der Heldinnen des Films von Louis-Julien Petit ist noch simpler: Sie sind Frauen. Im Durchschnitt der Industriestaaten macht ihr Anteil unter den Obdachlosen zwischen 20 und 30 Prozent aus; die Tendenz ist steigend, heißt es.

Petit wird mancherorts als der französische Ken Loach bezeichnet, schilderte er in seinem Regiedebüt Discount doch ein Aufbegehren von Supermarktangestellten gegen ihr Ersetztwerden durch Automaten und beschäftigte sich in seinem zweiten Film Carole Matthieu mit dem Thema Mobbing am Arbeitsplatz. Tatsächlich gilt seine Regisseurssolidarität ähnlich ungeteilt den „Erniedrigten und Beleidigten,“ wie das beim britischen Vorbild der Fall ist. In Der Glanz der Unsichtbaren gelingt ihm jedoch etwas Einmaliges: ein Film von ansteckender Leichtigkeit, der sein niederschmetterndes Thema dennoch ernst nimmt; ein Film, der gute Gefühle macht, aber tiefer geht als die konfektionierten Emotionen eines Feelgoodmovies.

Das Setting ist simpel: Vorgestellt wird „L’envol“, eine Tagesstätte für weibliche Obdachlose, geleitet von Manu (Corinne Masiero), der sich die Jahre des Mitansehenmüssens anderer Leute Elend förmlich ins Gesicht gegraben haben. Noch vor ein paar Jahren mag sie der Sozialarbeiterin Audrey (Audrey Lamy) geglichen haben, die sich noch mit voller Verve für die Frauen engagiert, unter Aufopferung ihres Privatlebens. Den beiden zur Seite stehen die vorlaute Angélique (Déborah Lukumuena), die Manu als jugendliche Obdachlose aufgabelte und „adoptierte“, und die Freiwillige Hélène (Noémie Lvovsky), der als betrogener Ehefrau die Decke zu Hause auf den Kopf fällt.

Gleich in den ersten Szenen müssen Manu und Audrey eine Evaluierungssitzung hinter sich bringen, bei der ihnen eine zu geringe „Effektivität“ vorgeworfen wird. Sie würden es den Frauen zu gemütlich machen, heißt es, die Obdachlosen würden sich zu wohl fühlen, Ziel sei doch, sie von der Straße wegzubringen, nicht, ihnen das Leben ohne Wohnung leichter zu machen. Die Schließung ihrer Tagesstätte ist beschlossene Sache.

Kleidertipps und Yoga

Weil sie nichts mehr zu verlieren haben, wagen Audrey und Manu das, wozu ihnen bislang die Hände gebunden waren: In einem leer stehenden Fabrikgebäude richten sie Schlafplätze für die Frauen ein und erfinden mit deren Mitwirkung ein Intensivprogramm: Mit Atem- und Psychotherapie, Rollenspielen und Bewerbungs-Coaching, Kleidertipps und Yoga sollen die Frauen das nötige Know-how und vor allem wieder mehr Selbstwertgefühl bekommen, um sich erfolgreich auf Jobs bewerben zu können.

Wer sich jetzt gelangweilt mit dem Gedanken abwendet: „Diese Wir-schaffen-das-Geschichten, das hat man doch Dutzende Male schon gesehen“ – liegt falsch. Nicht etwa, weil Petit den mindestens so stereotypen Weg ins „berührende Melodrama“ einschlägt, wo am Schluss alles scheitert, damit der Zuschauer sich schön betroffen fühlen kann. Die obdachlosen Frauen werden in Der Glanz der Unsichtbaren von Laien verkörpert, die meist selbst Straßenerfahrung haben. Sie füllen hier nicht nur die Rollen am Rand aus, sondern sind durch viele in Improvisation entstandene Szenen das eigentliche Herz des Films.

Das alte Fabrikgebäude wird reell zur Bühne für diese Frauen, die sich gern hinter glamourösen Pseudonymen wie „Brigitte Macron“ oder „Cicciolina“ verbergen. Statt sie auf ihre tragischen, traurigen Geschichten zurückzuwerfen, lässt Petit sie hier in neue Rollen schlüpfen – in die der zupackenden Chantal, die Geräte aller Art reparieren kann, aber jedem auf die Nase binden muss, dass sie ihren Mann umgebracht und ihre Künste deshalb im Gefängnis gelernt hat. Oder die der stillen „Lady Di“, die mit dem Schrotthändler einen Flirt beginnt. Oder die der ungeschickten Monique, die mal einen ganzen Tag lang in einer Immobilienfirma arbeitete ... Als wolle er ihnen nicht zu nahe treten, lässt Petit sie vor der Kamera das Lernen spielen, ihr Selbstbewusstsein haben diese Frauen sichtlich schon vor Längerem zurückbekommen.

Info

Der Glanz der Unsichtbaren Louis-Julien Petit Frankreich 2018, 102 Minuten

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