Mit dem golden goal der Franzosen endete am Sonntag die Fußballeuropameisterschaft 2000. Der Blick auf die italienischen Verlierer entlarvte einmal mehr die Schönfärberei dieses Siegerwortes: es war eben doch ein sudden death; die Sprachregelung des Eishockey ist da ehrlicher.
Egal auf welcher Seite die Sympathien lagen, plötzlich war alles vorbei, und unaufhaltsam stellte sich ein schales Gefühl ein: Was gucken wir als nächstes? Drei Wochen lang hatte man kaum mehr gezappt, war nicht mehr im Kino oder Theater gewesen und vom Krieg in Tschetschenien und ähnlichem hatte man auch nichts mehr mitgekriegt. Schön war die Zeit. Wer aus nostalgischer Trägheit noch ein wenig vor dem Fernseher verweilte, bekam ein Interview mit Lothar Matthäus zu sehen. Da war man auf einmal doch froh, dass nun Schluss sein würde mit den täglichen Verlautbarungen zum Wasserstand des deutschen Fußballs. Auf die Frage seines Duzfreundes Waldemar, woran es denn gelegen habe, das schlechte Abschneiden, sprach Herr Matthäus aus, was wohl alle befürchten: Es sei ein gesellschaftliches Problem. Diese Formulierung klingt fern vertraut. Sie will besagen, dass alle zugleich mitverantwortlich und doch machtlos sind, etwas dagegen zu tun. Der Einzug des Siebziger-Jahre-Politikjargons in den Fußballdiskurs kann als die eigentliche Medienentdeckung dieser EM gelten. Nicht nur, dass ständig von den "Strukturen" die Rede war, die man zuerst (!) verändern müsse, nein, überhaupt die ganze Diskussionsgier mitsamt Kritik und Aufforderung zur Selbstkritik, die bei dem Thema "Krise des deutschen Fußballs" an den Tag gelegt wurde, zeugte davon, dass der DFB und sein unmittelbares Journalistenumfeld endlich in den Siebzigern angekommen sind. Damals galt Duzen als progressiv, das muss man Herrn Hartmann zu Gute halten.
Das schale Gefühl plötzlichen Fußballentzugs, das auch am Montag danach nicht vergehen wollte, wurde noch verschärft vom Gedanken, dass das nun der Abschied von der öffentlich-rechtlichen Berichterstattung über die großen Fußballereignisse gewesen sein soll. Die Lobreden auf Herrn Netzer lassen wir hier mal beiseite - im Großen und Ganzen haben ARD und ZDF es geschafft, dass man ihnen keine Träne nachweinen will. Weniger wegen der Spielmoderatoren, die sich ja schon länger einer eher traurigen Berühmtheit erfreuen, als vielmehr wegen des ganzen Beiprogramms. Die Liveschaltungen in die Hauptstädte Europas sollten eine Allgegenwart des Mediums dokumentieren und zeigten doch nur, wie sehr die Korrespondenten in Rom, Paris, London immer daneben lagen. Die immer gleichen Aufnahmen von Kneipen, in denen Menschen gemeinsam fernsehen, mal in orange, mal in blau sollten Stimmung vermitteln und machten dabei den Eindruck, als würde ein und das selbe Band ständig wiederholt.
Die Fernsehanstalten bei dieser EM wirkten wie von der ständigen Angst getrieben, es könne sich niemand mehr für Fußball interessieren. Vor allem nach dem Ausscheiden der Deutschen. Die Viertel- und Halbfinalspiele konnten noch so interessant sein, zu Beginn und am Ende jeder Sendung wurde doch wieder nur über die eigene Misere geredet. Dabei sprechen die Einschaltquoten eine andere Sprache: mit über 18 Millionen wurde das Finale Italien-Frankreich zum Quotenhit der EM und hatte sogar mehr Zuschauer als das Spiel Deutschland gegen England.
Die Bericherstatter scheinen ihrem zu vermarktenden Produkt, dem Fußball, als Ereignis nicht mehr recht zu trauen. Auf beiden Kanälen wurde deshalb mit unsäglicher comedy und Gewinnspielen auf Vorschulniveau versucht, "aufzupeppen".
Dabei ist doch die Verwandlung des Spiels in eine Narration das eigentlich Spannende einer solchen Veranstaltung. Der Großteil der Moderatoren ist aber zu beschäftigt damit, Ecken- und Ballbesitz-Statistiken zu interpretieren, um wirklich Sinn für den suspense der Mischung aus Strategie und Zufall zu entwickeln. Reporter wollen meistens Recht behalten, deshalb spielt der beste Fußballer der Welt aktuell nie so gut wie im Spiel davor und das erste Fazit wird bereits nach drei Minuten gezogen. Am Schluss steht dann immer die Frage, ob die errungenen Siege verdient waren. Die unvermeidliche Antwort darauf ist das "Irgendwie ja schon auch". Unverdiente Siege, so der Eindruck, darf es nicht geben, das wäre zu bedrohlich. Wenn auch oft die bessere Geschichte.
Aber vielleicht ist diese Sehnsucht nach Erzählung ein eher weiblicher Zug, der dem männlichen Expertenwesen zuwider läuft. Entgegen der landläufigen Meinung, Frauen würden beim Fußballgucken nur auf das Aussehen der Spieler achten, sind es nämlich oft die melodramatischen Elemente, für die sie sich besonders interessieren. Damit sind weniger die bitteren Tränen gemeint, die gestandene Männer bei großen Niederlagen auf dem Rasen vergießen als vielmehr die ganze dramatische Architektur, die sich bei einer solchen Veranstaltung herausbildet. Wenige Spiele reichen aus und es gibt good guys wie die Portugiesen und bad guys wie die Jugoslawen, und mit beiden Rollenfächern kann man gleichermaßen sympathisieren; es gibt glorreiche, tragische und lächerliche Helden, Schicksalschläge, ausgleichende Gerechtigkeiten und Glücksstreiche, das ganze Soap-Inventar eben.
Es ist, als ob man einem Drehbuch beim Entstehen zuschaut, und wie im richtigen Leben kann man sich nie sicher sein, ob am Ende etwas Verfilmbares dabei herauskommt. Am besten lässt man sich einfach mitreißen von dieser Art der Erzählung. Unnötig, sich vor einem Spiel zu entscheiden, für wen man fiebert. Das erste Tor zeigt einem an, wo man steht - entweder es versetzt einem einen Stich ins Herz oder man springt vom Sessel auf. Am Ende aber kann es gehen, wie bei schlechter Unterhaltungsliteratur: Der Roman ist ausgelesen und man fragt sich, wo all die Zeit geblieben ist, von der man glaubte, man würde sie so intensiv verbringen. Wenn die Intrige aufgelöst ist, bleibt nichts mehr zu interpretieren übrig.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.